Bürgerinitiativen kämpfen gegen Bahnlärm an Mittelrhein und im Rheingau

„Lärm macht krank“

„Lärm macht krank“

Güterverkehr am Mittelrhein: Erst die Stadt Koblenz vollgelärmt, dann noch schnell den Einwohnern des Senioren-Zentrums Hildegard von Bingen (r.) einen Unruhestand beschert und dann ab ins Welterbetal und durch den Rheingau. WE

Koblenz. „Eines Tages wird der Mensch den Lärm ebenso unerbittlich bekämpfen müssen wie die Cholera und die Pest“, hatte der Arzt und Nobelpreisträger Robert Koch vor jetzt mehr als hundert Jahren prophezeit. Tatsächlich ist Lärm heutzutage zu einem erheblichen Gesundheitsrisiko geworden. In Deutschland hat vor allem das Max-Planck-Institut für Arbeitsphysiologie in zahlreichen Versuchsserien nachgewiesen, dass Herz- und Kreislaufstörungen, Stoffwechselschäden, Absinken der Hauttemperatur und Verminderung der Magensekretion bei lang anhaltender Lärmbelästigung zu verzeichnen sind, und zwar bereits bei einem Lärmpegel, wie er den Anwohnern verkehrsreicher Straßen schon seit Langem zugemutet wird.

Lärm entsteht durch eine hohe Schallintensität, die in Dezibel gemessen wird. Das Gehör leidet nach heutigen wissenschaftlichen Erkenntnissen ab einem Schallpegel von 85 Dezibel. Am Straßenrand einer Hauptverkehrsstraße beträgt der Pegel etwa 80 Dezibel, ein Gespräch oder Musik mit Zimmerlautstärke liegen bei gut 50 Dezibel. Schallspitzen, die durch Knallereignisse entstehen, können das Gehör schädigen. Auf den gesamten Organismus wirken hingegen sogenannte extra-aurale Lärmwirkungen ein, die körperliche Stressreaktionen auslösen und schon bei niedrigen Schallpegeln auftreten können.

Mehr als 500 Güterzüge täglich

Ständig von Lärm geplagt sind besonders die Menschen in dem sehr engen Rheintal des Rheingaus und des Mittelrheins, weil hier neben dem Personenzugverkehr zusätzlich täglich mehr als 500 Güterzüge rollen als Bestandteil des europäischen Schienengüterverkehrskorridors von Rotterdam nach Genua. Seit Anfang der 1990er Jahre gründeten sich im Nadelöhr des Rheingaus und dem seit 2002 als Weltkulturerbe anerkannten Mittelrheintal zahlreiche Bürgerinitiativen, die heute vernetzt arbeiten und ihren Lebensraum sowie seine touristischen Möglichkeiten gegen den Güterlärm zu verteidigen suchen oder vor möglichen Unfällen der zahlreichen Gefahrguttransporte zu schützen. Wurde die Lärmbelästigung durch Flugverkehr, LKW und PKW sowie Personenzügen mit gesetzlichen Auflagen in den vergangenen Jahrzehnten teilweise erheblich verringert, so gilt das nicht für den Schienengüterverkehr, für den gesetzliche Auflagen praktisch immer noch nicht existieren. Und das, obwohl gerade dieser mehrfach täglich Lärmbelästigungen von deutlich über 100 Dezibel sowie Erschütterungen für viele direkt an Bahnlinien wohnende Menschen verursacht.

Praktisch keine

gesetzlichen Auflagen für

den Schienengüterverkehr

Zu den ersten gegründeten Initiativen gehört die „Bürgerinitiative im Mittelrheintal gegen Umweltschäden durch die Bahn e.V.“, deren Vorsitzender seither Willi Pusch ist. Er und seine Mitstreiter haben sich in mehr als zwanzig Jahren Kompetenzen und Sachkenntnis erworben, die sie inzwischen zu anerkannten Gesprächspartnern für Vorstände der Deutschen Bahn und der Politik gemacht haben. Dies sicher auch, weil die Mitglieder der Initiative nicht gegen die Bahn sind, sich aber dafür einsetzen, dass Leben und Gesundheit von Menschen nicht zugunsten wirtschaftlicher Interessen geopfert werden.

Im Laufe der Jahre gab es für die Initiativen große Erfolge zu feiern aber auch große Niederlagen zu verkraften. Eine große Niederlage stellt der erst kürzlich vorgestellte Entwurf des Bundesverkehrswegeplans 2030 dar, der im Mittelrheintal sogar noch Kapazitäten für weiteren Güterverkehr sieht und daher keinen vordringlichen Bedarf für Entlastungsstrecken erkennt. Dass doch noch eine Entlastungsstrecke in den „vordringlichen Bedarf“ kommt, ist zwar theoretisch möglich, praktisch glaubt aber niemand mehr daran. Das kann nur noch die Politik erreichen. Namhafte Politikerinnen und Politiker des Bundes, der Länder Rheinland-Pfalz und Hessen sowie vieler Kommunen im Rheingau und im Mittelrheintal haben sich der Initiative angeschlossen. Im Bundestag wurde eine parlamentarische Gruppe „Schienenlärm“ gegründet, zu der mit steigender Tendenz derzeit schon mehr als 100 Mitglieder gehören. Da wäre schon einiges gegenüber Bundesverkehrsminister Dobrindt möglich bei wirklichem Willen.

Erste Erfolge

für die Bürgerinitiativen

Zu den großen Erfolgen zählen sicherlich Gespräche mit hochrangigen Politikern. So kam 1998 der damalige Verkehrsminister Franz Müntefering auf Einladung der Bürgerinitiative ins Mittelrheintal und erkannte die großen Probleme der Anwohner und des Tourismus durch Lärmbelastungen. Er versprach den Bau von bis zu zwei Meter hohen Lärmschutzwänden, die mit bis zu 75 Prozent der Kosten subventioniert werden sollten. Obwohl das Versprechen eingehalten wurde, stellte sich leider bald heraus, dass diese Maßnahme bei Weitem nicht den gewünschten Erfolg brachte. Aufgrund des beträchtlichen Höhenunterschieds von mehreren zehn Metern innerhalb der Ortschaften konnte ausreichender Lärmschutz mit einer durchgängigen Lärmschutzwand nicht erreicht werden.

Im Februar 2010 legten die Länder Hessen und Rheinland-Pfalz in Mainz ein gemeinsames „10-Punkte-Programm Leises Rheintal“ vor, das in einer gemeinsamen, parteiübergreifenden Arbeitsgruppe für mehr Lärmschutz, mit maßgeblicher Beteiligung der beiden links- und rechtsrheinischen Bürgerinitiativen „Bürgerinitiative im Mittelrheintal gegen Umweltschäden durch die Bahn e.V.“ und „Pro Rheintal“ erarbeitet worden war. In der Folge und nicht zuletzt wegen des ständig anhaltenden Drucks und der berechtigten Forderungen der Bürgerinitiativen erklärte sich der Vorstandsvorsitzende der Bahn, Dr. Rüdiger Grube, bereit, einen Projektbeirat ins Leben zu rufen. Das mit hochrangigen Vertretern aus der Führungsebene der Bahn, dem Bundesverkehrsministerium, Abgeordneten des Bundestags, der Ministerien für Umwelt, Wirtschaft und Verkehr der Länder Hessen und Rheinland-Pfalz, des Welterbekomitees sowie Vertretern der Bürgerinitiativen besetzte Gremium trat erstmals im Dezember 2012 zusammen. Dieses Treffen war der Startschuss vieler weiterer konstruktiver Zusammenkünfte. Die Reputation und Glaubwürdigkeit der Bürgerinitiativen bei Spitzenpolitikern und dem Bahnvorstand führten dazu, dass sie heute in viele Entscheidungsfindungen eingebunden sind. In diesem Zusammenhang kann man auch den Koalitionsbeschluss der derzeitigen Großen Koalition betrachten, der bis Ende 2016 die Umrüstung der Hälfte und bis 2020 aller auf deutschen Schienen verkehrenden Güterzüge auf leise Bremssysteme verlangt, weil ansonsten Sanktionen wie beispielsweise Geschwindigkeitsreduzierungen oder Nachtfahrverbote drohen. Bis 2020 sollen schließlich wie in der Schweiz überhaupt keine lauten Güterwagen mehr auf deutschen Schienen unterwegs sein. Die Zeit drängt, weil kürzlich der St. Gotthard-Basistunnel seine Pforten geöffnet hat und damit den Güterverkehr im europäischen Schienengüterverkehrskorridor nochmals um etwa 30 Prozent verstärken könnte.