Vor 50 Jahren probte man im Ahrweiler Regierungsbunker den Ernstfall

Als der Dritte Weltkrieg ins Ahrtal kam

Als der Dritte Weltkrieg ins Ahrtal kam

Als der Dritte Weltkrieg ins Ahrtal kam

Als der Dritte Weltkrieg ins Ahrtal kam

Bad Neuenahr-Ahrweiler. Wenn die Dokumentationsstätte Regierungsbunker zu einem Sonder-Event einlädt, strömen die Geschichtsinteressierten auf den Ahrweiler Silberberg.

Dies war auch jüngst der Fall, als das Team um Museumsleiterin Heike Hollunder einen Kino- und Vortragsabend rund um die frühere NATO-Übung „Fallex 66“ veranstaltete. Eben jenes Manöver liegt in diesen Tagen genau ein halbes Jahrhundert zurück und sorgte seinerzeit vor allem im Nachgang für politisches und mediales Aufsehen. Bevor ein entsprechender Dokumentarfilm zur Aufführung kam, der bislang unveröffentlicht im Archiv des WDR geschlummert hatte, referierte der Historiker und Gymnasiallehrer Johannes Jung aus seiner Examensarbeit, die er einst zum Thema „Fallex 66“ (= Fall Exercise 1966) geschrieben hatte. Dabei standen nicht nur die außen- und innenpolitischen Schwerpunkte der Übung im Mittelpunkt, sondern auch jede Menge Daten und Fakten über den fiktiven „Dritten Weltkrieg“ vor fünfzig Jahren. Bei „Fallex 66“ handelte es sich um eine Stabsrahmenübung der gesamten Kommandostruktur der NATO, die vom 17. bis 30. Oktober 1966 (ohne Vorübung) im damaligen Regierungsbunker stattfand. Übungsziel war der Übergang von einem Spannungszustand zum Verteidigungsfall, bei der das Zusammenspiel der einzelnen NATO-Organisationen, nationalen und internationalen Entscheidungsträgern sowie deren untergeordneten Befehlsempfängern getestet wurde. Ab 1971 in „WINTEX“ umbenannt, fanden ähnliche Übungen und Manöver noch bis 1989 („WINTEX 89“) statt.

1.200 Beamte

und 44 Abgeordnete

Als Szenario konstruierte man eine Krise im Gebiet der Warschauer-Vertragsstaaten, die einen Überfall des Verteidigungsbündnisses „Warschauer-Pakt“ auf die NATO mit dem Schwerpunkt des europäischen Kriegsschauplatzes zu Folge hatte. Tatschliche Truppenbewegungen fanden jedoch nicht statt. Mehr als 1.200 Ministerialbeamte und Militärs sowie 44 Bundestagsabgeordnete, darunter der spätere Bundeskanzler Helmut Schmidt, Ernst Benda, Wolfram Dorn, Kai-Uwe von Hassel, Annemarie Renger und Manfred Wörner. Bundeskanzler Ludwig Erhard hielt es nur einen Tag im Bunker aus – er zog es vor, in die benachbarte Gaststätte „Altenwegshof“ einzukehren, statt längere Zeit „eingesperrt“ zu sein. Viele Informationen fand Historiker Jung nicht nur im Bundesarchiv, sondern vor allem im Stasi-Archiv und damit auch etliche Belege, dass die „Gegenseite“ über die meisten Zusammenhänge mehr als gut informiert war. „Da konnte ich mir bei manchen Dokumenten sogar ein Schmunzeln nicht verkneifen“, so Jung. Eingeteilt war das Manöver in die Kampagnen „Top Gear“, „Jolly Roger“ und „Full Moon“, inklusive konventionellem Angriff und späterem Nuklearwaffeneinsatz. Während „Top Gear“ mit einem günstigen Verlauf für die NATO-Verbände endete, nahmen „Jolly Roger“ und „Full Moon“ einen wesentlich ungünstigeren Verlauf. Später wurden Stimmen laut, dass das positive „Top Gear“-Ergebnis sozusagen „auf Bestellung“ geliefert worden wäre um die Politiker nicht allzu sehr zu verunsichern. Die Presse titelte damals entsprechend: „Staatsstreich im Sandkasten“ oder „Wohl kaum je war eine Manöverlage so sehr den Wünschen der Initiatoren angepasst, wie die Notstandsübung im Eifelbunker. Die Notstand-Planer des Lücke-Ministeriums nannten sie ein Geschenk des Himmels“ (Der Spiegel) war unter anderem zu lesen.

Erste „Große Koalition“

Denn die mitregierende FDP musste beim Durchüben der umstrittenen „Schubladengesetze“ (Notstandsverfassung) feststellen, dass parlamentarische Mehrheiten auch ohne sie und mit Zustimmung der SPD-Riege möglich waren. Unmittelbar nach der Übung „Fallex 66“ zogen die Freien Demokraten ihre Minister aus der Regierung ab und machten damit den Weg frei für die erste Große Koalition unter einem neuen Kanzler Kurt-Georg Kiesinger. Anzeichen für den „Staatsstreich“ gab es bereits bei einer WDR-Gesprächsrunde mit beteiligten Politikern im Walporzheimer Weinlokal „St. Peter“ am letzten Übungstag. Ernst Benda (CDU), Gerhard Jahn (SPD) und Wolfram Dorn (FDP) waren direkt aus dem Bunker in die Weinwirtschaft gewechselt und sprachen über Übungsinhalte. Politischer Konsens wurde durch Benda und Jahn in der Frage vorgetragen, ob die Anwendung der Notstandsgesetze zielführend verlaufen sei: Die Übung habe deutlich ihre Wichtigkeit für parlamentarische Entscheidungsfähigkeiten und Mitbestimmungsrechte auch in Zeiten der Staatsnot bewiesen. Mit Ernst Benda und Wolfram Dorn wurden zum gleichen Thema 2005 und 2008 Fernsehinterviews geführt, die ebenfalls gezeigt werden und die unmissverständliche Botschaft vortragen: „Fallex 66“ war einschneidend auch für das Verhältnis der Politiker, selbst 40 Jahre nach Übungsende. Nach dem Bunkerauszug hagelte es Vorwürfe und sogar Anzeigen. Benda erlebte als Bundesinnenminister 1968 die Abstimmung zu den Notstandsgesetzen im Bundestag mit. Dorn zog Benda-Nachfolger Hans-Dietrich Genscher ins Innenministerium – als Staatssekretär, dem auch die innere Sicherheit übertragen wurde. Damit fiel der Regierungsbunker in seinen Zuständigkeitsbereich, in dem er drei Jahre zuvor mit seiner FDP „ausgeputscht“ wurde.

Ahrwein und

Skatkarten im Gepäck

Politisch bis persönlich – die Jubiläumsveranstaltung im Regierungsbunker zeugte auch beeindruckende Filmaufnahmen von Übungsteilnehmern bei ihren privaten Vorbereitungen auf „Fallex 66“. Da wienert die Ehefrau das Weinglas auf Hochglanz, bevor der Hausherr nach eingehender Sauberkeitskontrolle das Trinkgefäß im Koffer verstaut. Die Spielkarten fliegen hinterher, „denn alles ist ja nur halb so wild, wenn uns abends ein guter Schluck Ahrwein geboten wird.“ Schuhe mit dicken Gummisohlen nennt die Packliste der Weltkrieger „und Sonnenbrillen zum Schutz der Augen vor dem grellen Neonlicht.“ Dann brechen 1.200 Bonner auf ins Ahrtal, begleitet von Fernsehkameras, die sogar vor den Bunkerzugängen aufgebaut werden und festhalten, wie Abgeordnete, Militärs und Sekretärinnen im gerade fertiggestellten Ostteil der Anlage verschwinden. Hinter ihnen schließen sich die Atomschutztore. Als sie sich wieder öffnen, ist nichts mehr, wie es war. „Fallex 66“ hat nicht nur in der bundesdeutschen Politik Spuren hinterlassen, sondern auch im Leben der Übungsteilnehmer. „Natürlich haben wir uns danach die Frage gestellt, wie es im Ernstfall wäre. Dann sitzen wir da im Bunker und draußen ist nichts mehr“, sprach Annemarie Renger das aus, was wohl alle dachten. Manfred Wörner, Kai-Uwe von Hassel, Heinrich Krone, Helmut Schmidt, Ludwig Erhard, Paul Lücke ... Bundesminister, Staatssekretäre, zwei Bundeskanzler im Bunker, agierende und kommende Größen der Bundespolitik – sie alle vereinte nach dem 21. Oktober 1966 das Bunkerleben und die Übung „Fallex 66“.