Dr. Lars Brocker zu Gast bei Dichtung und Wahrheit

Auf den Spuren derRheinland-Pfälzischen Verfassung

Auf den Spuren der
Rheinland-Pfälzischen Verfassung

V.r.: Dr. Angela Kaiser - Lahme, GDKE; Minister a.D. Gernot Mittler, Dr. Lars Brocker, Landrat Dr. Alexander Saftig, links außen Initiator der Veranstaltungsreihe Dieter Dierkes. - SOT -

Mayen. Über hohen Besuch durfte sich Schloss Bürresheim freuen: Initiator Dieter Dierkes war es gelungen, den Präsidenten des Rheinland-Pfälzischen Verfassungsgerichtshofes, Dr. Lars Brocker, für einen Vortrag im Rahmen der Veranstaltungsreihe „Dichtung und Wahrheit“ zu gewinnen. „Verfassungswandel durch Verfassungsrechtsprechung - Entwicklung aus 70 Jahren Verfassungsrechtsprechung in Rheinland Pfalz“ lautete das auf den ersten Blick etwas sperrig anmutende Thema, das der Referent jedoch mit Leben zu füllen wusste.

Gegründet im Jahr 1947 ist der Verfassungsgerichtshof mit Sitz in Koblenz das höchste Gericht des Landes Rheinland-Pfalz und neben Landtag und Landesregierung gleichberechtigtes Verfassungsorgan. Seine zentrale Aufgabe ist die Überwachung aller Aktivitäten der öffentlichen Gewalt des Landes bezüglich der Einhaltung der Verfassung; dabei ist ihre letztverbindliche Auslegung Sache des Verfassungsgerichtshofs.

Bei der Erfüllung seines Auftrags ist der Verfassungsgerichtshof seltener Gegenstand öffentlicher Meldungen - spektakuläre Fälle, die die Aufmerksamkeit einer breiten Öffentlichkeit erregen, sind hier nicht an der Tagesordnung. Jedoch ist die Arbeit des Gerichts für alle Bürgerinnen und Bürger des Landes von ausgesprochener Relevanz, denn seine Entscheidungen ziehen häufig auch politische Auswirkungen nach sich. In der Praxis gehören die Verfassungsbeschwerde, das Normenkontroll- und das Organstreitverfahren zu den Klagearten, die an den Verfassungsgerichtshof herangetragen werden. „Wir agieren nicht nach Agenda, wir haben nichts, was wir umzusetzen, zu befördern haben, sondern wir können nur dann entscheiden, wenn der Fall zu uns getragen wird“, erklärte Dr. Lars Brocker am Freitagabend, „Sie können mir glauben - es gibt Fälle, da wartet man schon mal sehnsüchtig drauf; da denkt man, da müsste dringend mal was zu gesagt werden.“ Derzeit finden jährlich etwa zwei mündliche Verhandlungen statt, die dann meist auch zum Gegenstand öffentlichen Interesses werden. „In der letzten Verhandlung, am 23. Januar diesen Jahres, haben wir die Frage der AfD - Fraktion im Landtag verhandelt und entschieden. Die Partei hat sich benachteiligt gesehen durch die Gestaltung, die Größe und der Zusammensetzung der Ausschüsse“, erinnerte der Jurist an den Fall. „Die AfD hatte keinen Erfolg, aber das war so ein Fall, da waren wir sichtbar - jetzt sind wir wieder in einer ruhigen Phase.“

Verfassungswandel

Der Begriff des Verfassungswandels sei für die Einen methodische Selbstverständlichkeit, „als Jurist, als Richter wissen Sie, dass Sie Gesetze interpretieren, in einem zweiten Durchgang vielleicht einige Jahre später anders interpretieren - man nennt das meist ‚nachschärfen`, wenn man nicht direkt zugeben will, dass man das Ganze umgedreht hat oder eine völlig andere Meinung vertritt.“ „Fortentwickelt“ sei auch so ein schöner Euphemismus in dem Zusammenhang. „Also es ist eine Selbstverständlichkeit, dass eine Wandlung von offenen Rechtsbegriffen eintritt“, so Brocker. Für andere sei der Verfassungswandel aber auch ein Reizwort: „Denken Sie aktuell an die Frage, ob sich der Ehebegriff des Artikels 6 Absatz 1 des Grundgesetzes zum Beispiel durch eine Änderung gesellschaftlicher Realitäten normativ so verändert hat, dass er jetzt über die Gemeinschaft verschiedengeschlechtlicher Partner hinausgeht. Wenn man das Bundesverfassungsgericht in seiner Rechtsprechung sieht, scheint es darauf hinzudeuten, dass ein solcher Wandel angenommen werden könnte.“

Mögliches Demokratie-Problem

Der Begriff des Verfassungswandels können sich aber noch drastischer auswirken: Beispielsweise habe der Staatsrechtler Hans Meyer vor nicht allzu langer Zeit ausgeführt, dass Deutschland durch eine explodierende Einwanderung und durch einen enormen Einwanderungsdruck bei gleichzeitig „schrumpfender Stammbevölkerung“ zunehmend ein Demokratie-Problem bekomme. Demnach sei in den Augen Meyers der Volksbegriff in Artikel 20 als offener Begriff zu akzeptieren und dürfe nicht, wie es das Bundesverfassungsgericht tue, auf deutsches Staatsvolk reduziert werden. Das hätte dann entsprechende wahlrechtliche Folgen: „Das Wahlrecht wird dann nicht mehr an die deutsche Staatsangehörigkeit geknüpft, sondern könnte auch an einen entsprechend langen, zulässigen, rechtmäßige Aufenthalt im Bundesgebiet geknüpft werden“, gab Dr. Lars Brucker zu bedenken. Das sei die Forderung des Berliner Staatsrechtslehrers und eine grundlegende Abkehr von der bisherigen Interpretation des Artikels 20 Absatz 2 Satz 1 des Grundgesetzes. „Das sind nur zwei Beispiele, mit denen ich Ihnen zeigen will, das wesentliche Punkte, auch grade des Grundgesetzes im Fluss sind“, führte der Experte aus. Je nach Sichtweise böten sich Möglichkeiten oder liefen Dinge Gefahr, anders interpretiert zu werden, woraus sich ganz wesentliche, verfassungspolitische Weichenstellungen ergäben. „Bei diesen Beispielen ist die Frage, ob im Hinblick darauf die Kontinuität der Verfassung und ihre Fortbildung noch gewahrt bleibt“, so Brocker.

Seine Beispiele sollten vor allem den Stoff für einen Gedankenaustausch geben, denn eines sei klar: „Verfassungsinterpretation ist keine Sache, die nur Verfassungsgerichte machen - das geht jeden an: Hochschullehrer aber auch den interessierten Staatsbürger geht diese Frage etwas an.“ Denn in einer offenen Gesellschaft sei jeder Verfassungsinterpret und nur so könne die Verfassung auch ihre integrative Kraft entfalten. „In einer Zeit, in der viel von Integration gesprochen wird in anderen Zusammenhängen möchte ich auch mal an diesen Grundsatz erinnern: Dass auch einer der wesentlichen Punkte der Verfassung - eine ihrer zentralen Wirkungen, wofür sie auch gedacht ist - Integration ist und dass deshalb gerade die Verfassung bei dem Begriff Integration in einem anders verstandenen Feld nicht zur Disposition gestellt werden darf. Sondern an ihr müssen sich alle Maßnahmen messen lassen“, stellte der Präsident des Verfassungsgerichtshofes klar.

Stabilisierungsfunktion der

Verfassung

Letztlich sei die Verfassung ein entwicklungsoffener Kommunikationsprozess. „Der Begriff der Verfassung ist, wie es einmal ein amerikanischer Verfassungsrechtler gesagt hat, ein „organic whole“, ein organisches Ganzes - und das ist nicht statisch“, so Brocker. Zwar sei die Verfassung in Worten niedergelegt, aber sie sei nichtsdestotrotz ein organisches Gebilde, dass sich durch die Interpretation verändere. „Es ist ein politisches Gründungsdokument des Staates, das aus der Vergangenheit in die Gegenwart wirkt und diese Gegenwart festlegt auf bestimmte Verfahrensabläufe, Werte und Handlungsschranken“, präzisierte der Rechtsexperte. Aber hier sehe man auch das strukturelle Dilemma: „Verfassungsrecht soll in erster Linie Stetigkeit sicherstellen - wir sprechen von der Stabilisierungsfunktion der Verfassung. Verfassung darf aber auch nicht versteinern, wenn sie adäquaten Antworten auf die Fragen der Gegenwart geben soll.“

Brocker zitierte dazu den Amerikaner Thomas Jefferson, der festgestellt hat: „Die Toten haben keine Macht über die Lebenden.“ Demnach können die Väter und Mütter der Verfassung ihre Errungenschaften nicht für alle Zeiten festschreiben, jedoch sollten diese natürlich fortwirken - „das Gründungsdokument des Staates muss seine Kraft entfalten können“, brachte es Brocker auf den Punkt. Die besondere Anforderung, genau das auszutarieren, werde an den Letztinterpreten der Verfassung gestellt. „Rechtsanwendungen, das gilt für jeden Juristen, sind ein schöpferischer Akt und deshalb unterliegt auch die Verfassung einem Wandel durch Interpretation, Konkretisierung und Nachjustierung. Und Verfassungsrechtsprechung ist daher auch immer unauffällige Verfassungsänderung. Das ist vielleicht das, was den ein oder anderen nachdenklich macht bei der Frage ,Wer macht eigentlich Politik?“ in diesem Kontext. Natürlich wirkten die Entscheidungen des Verfassungsgerichtshofes politisch, „wenn es ein politisches - rechtliches Dokument gibt, dann ist es die Verfassung“, stellte Dr. Lars Brocker klar. „Das ist geronnene Politik, das ist die Verankerung von Wertvorstellungen und die Festlegung von Abläufen; so, wie ein Gemeinwesen sich organisiert, wie es die Gewichte zwischen den einzelnen Staatsgewalten austariert.“ Doch auch wenn die Arbeit der Richter am Verfassungsgerichtshof politische Wirkung hat, arbeiten sie nicht nach politischen Grundsätzen. „Das ist der entscheidende Unterschied“, so Brocker, der Auftrag an die Mitglieder seiner Institution sei die Rechtsgewinnung. Wie die Verfassung für Rheinland-Pfalz das wurde, was sie heute ist; ob sie jenseits von Textänderungen die gleiche geblieben ist und welchen Anteil am Wandel der Verfassung ihr verbindlicher Letztinterpret, der Verfassungsgerichtshof hat, erfuhren die Gäste von Dichtung und Wahrheit in einem anspruchsvollen aber kurzweiligen Vortrag, bei dem auch die Nichtjuristen im Publikum nicht auf der Strecke blieben.

Am 0. Juli begibt sich die Veranstaltungsreihe erneut auf die Spuren der Wahrheit: „Emmanuel Macron und die Neugründung Europas - französische und deutsche Vorschläge“ lautet das Thema des Abends. Vortragender ist Prof. Dr. Henri Ménudier, Professor an der Universität Paris III Sorbonne Nouvelle Wegen des begrenzten Platzangebots im Ahnensaal bittet der Veranstalter um Anmeldung unter Tel.: (02 61) 66 75 15 35 oder per E - Mail: carmen.butenschoen@gdke.rlp.de.