Das „kleine KZ“ in der Nachbarschaft (19)
von Joachim Henning
In der letzten Folge dieser Reihe wurde weiterhin über den Alltag der KZ-Häftlinge berichtet. Auch wurden schon verschiedene Arbeitskommandos angesprochen.
Die verschiedenen Außenkommandos der beiden Teillager
Wichtige Kommandos – neben den „Tunnelkommandos“ – waren die Bahnhofskommandos in Cochem und Karden. Das Kommando am Kardener Bahnhof kam aus dem Teillager Treis, das am Cochemer Bahnhof aus Bruttig. Der Umfang der Arbeiten dort ist schwer abzuschätzen. Zwar wurden für den Innenausbau des Tunnels gigantische Mengen Baumaterialien gebraucht (550 Tonnen Baueisen, 275 Tonnen Maschineneisen, 145 Festmeter Rundholz, 610 Kubikmeter Schnittholz, 1.500 Tonnen Zement und 200.000 Ziegelsteine). Es ist jedoch nicht bekannt, wie viel davon mit der Bahn angeliefert, dann auf Lkws verladen und zum Tunnel gebracht werden musste. Ein Teil konnte sicherlich mit den Moselfähren in Tunnelnähe oder sonst wie unmittelbar zum Tunnel befördert werden.
Auch wissen wir von einem Waldkommando. Das bestand aus 12 bis 14 KZ-Häftlingen aus dem Teillager Treis. Die Gefangenen mussten täglich ca. zwei Stunden lang bis auf den Pommerner Berg marschieren, um dort in den Wald Schneisen für Überlandleitungen zu schlagen. Mit diesen Leitungen sollte die Stromversorgung im Tunnel verbessert werden. Auf dem Weg zur Arbeit kam das Kommando durch den Ort Kail, dort waren die Arbeitsgeräte deponiert. Abends ging es diesen Weg wieder zurück. Darauf werden wir später noch zurückkommen.
Weiterhin sind ein - vom Teillager Bruttig aus eingesetztes - Straßenbaukommando wie auch ein Steinbruchkommando und ein Trafokommando namentlich bekannt. Das Trafokommando sollte eine Transformatorenstation an der Bahnlinie zwischen Pommern und Klotten errichten, um die vom Pommerner Berg kommende Überlandleitung für die Tunnelanlagen nutzbar zu machen. Außerdem gab es eine Baustelle Fankel und dementsprechend ein Arbeitskommando Fankel. Eine weitere Baustelle gab es in Ebernach und dann auch ein Arbeitskommando Ebernach. Auf den Baustellen in Fankel und in Ebernach errichtete die Baufirma Fix Unterkünfte (Baracken) für die Arbeiter und Arbeiterinnen der Firma Bosch (WIDU). Neben eigenen Arbeitern der Firma Fix waren auch KZ-Häftlinge dabei beschäftigt.
Das Kiesbaggerkommando
Mehr wissen wir von einem Kiesbaggerkommando. Über dies berichtete der polnische Häftling Edward Szalachetka später folgendes:
„Eines Tages im Juni, während ich noch in Treis arbeitete, wurde ich mit meinem Freund Stanislaus Janas zu einem Kiesbaggerkommando beordert. Dort arbeiteten ca. 40 Häftlinge. Alle zwei Wochen kamen neue, weil die Arbeit so mörderisch war. Wer nicht früher starb, musste oft hier mit dem Leben bezahlen. Ein Transport aus Natzweiler brachte immer neue Häftlinge an. Ein deutscher Zivilmeister war der Verursacher, der die Häftlinge so zur Arbeit antrieb, dass es über ihre Kräfte ging. Sie wurden so stark geschlagen, dass viele von ihnen starben. Wie dieser Mensch hieß, weiß ich nicht mehr, aber er war ca. 65 Jahre alt, von kräftiger Statur und trug einen grünen Tirolerhut. Er hat viele Häftlinge auf dem Gewissen.
Am ersten Tag wurden von der 40er-Gruppe einige auf das Baggerschiff mitten auf der Mosel eingeteilt. Andere fuhren auf zwei Kähnen, die den Kies an Land brachten und dort von Hand abluden und auf einer Fläche lagerten. Der Rest der Häftlinge musste diesen Kies wieder auf vier Waggons aufladen. Waren diese Waggons gefüllt, brachte eine Lok vier neue Waggons. Die Beladenen wurden in den Tunnel gefahren, wo Tag und nach Betonarbeiten durchgeführt wurden.
Eines Tages, als ich mit meinem Freund den Kies auf die Waggons lud, kam der scharfe Bewacher und fragte uns, wer ein Maschinist sei. Ich meldete mich. Er sagte zu mir: ‚Wenn du mich belogen hast, musst du das mit deinem Leben bezahlen.‘ Er stieß mich arrogant zu dem deutschen Maschinisten, der auf der Lok stand, und rief: ‚Franz, hier hast du einen Helfer.‘“
Bedeutung der einzelnen Kommandos
Diese hier nur mögliche kursorische Erwähnung der einzelnen Arbeitskommandos ist in mehrfacher Hinsicht interessant.
Aus der Sicht der Häftlinge gab es also recht zahlreiche unterschiedliche Arbeitsstellen. Sie waren sicherlich unterschiedlich „schwer“. Das hing zum einen von dem jeweiligen Arbeitsbereich und auch von dem jeweiligen Kapo wie auch dem deutschen Vorarbeiter und der Bewachung ab. Zudem boten die einzelnen Kommandos unterschiedliche Möglichkeiten, mit der Bevölkerung in Kontakt zu treten und dadurch ggf. Zuwendungen zu erhalten. Auch wenn es konkret von Cochem nicht bekannt ist, so wissen wir doch aus Konzentrationslagern und anderen Außenlagern, dass es unter den Häftlingen immer wieder Konkurrenzkämpfe um tatsächliche oder vermeintliche „leichte“ Kommandos gab. Das ist auch gut vorstellbar für Cochem.
Mit Blick auf die Bevölkerung sorgten diese recht zahlreichen Arbeitskommandos für eine sehr vielfältige und große Nähe zu den KZ-Häftlingen. Für viele Einwohner zahlreicher Ortschaften im Raum Cochem waren die KZ-Häftlinge ein Teil ihres täglichen Lebens. Sie sahen sie auf dem Weg zur Arbeit, beobachteten sie auf manchen Arbeitskommandos und sahen sie dann auf dem Weg zurück in ihr Lager. Sie nahmen aber auch das „Personal“ wahr - die Soldaten und den einen oder anderen SS-Mann wie auch schon einmal einen Bluthund sowie die Kapos - und wie diese mit den Häftlingen umgingen.
Schließlich waren diese zahlreichen „Baustellen“ auch eine Herausforderung für die SS-Leute, vor allem für den jeweiligen Lagerführer. Denn er hatte doch allerhand zu beaufsichtigen. Das soll jetzt keineswegs Verständnis für diese SS-Führer schaffen, sondern allein die Situation aus der Sicht dieser NS-Täter beschreiben. Vor allem – und darum geht es hier – spiegelt sich in deren Arbeitsablauf auch das Alltagsgeschehen im KZ-Außenlager Cochem wider.
Bericht des SS-Lagerführers Walter Scheffe
Zur Illustrierung des Alltags der Lagerführer und in gewisser Weise auch des Lagers und seiner Häftlinge soll hier auszugsweise der Bericht über den Tagesablauf des Lagerführers Walter Scheffe wiedergegeben werden. Er stammt von Scheffes Verteidiger im Nachkriegsprozess vor einem französischen Militärgericht. Natürlich muss diese Darstellung sehr kritisch gesehen werden. Scheffe war der verantwortliche SS-Mann für den Arbeitseinsatz der Häftlinge und ihren Alltag. Zudem war es seine Einlassung in einem Strafprozess, in dem es für ihn im wahrsten Sinne des Wortes um Leben und Tod ging. Von daher war er bemüht, die Situation der Häftlinge im Lager und seinen Beitrag daran in einem möglichst günstigen Licht zu darzustellen. Andererseits schildert er den typischen Tagesablauf, der als solcher kaum beschönigt werden konnte.
Der 1908 im Kreis Altenkirchen geborene Scheffe kam als SS-Obersturmführer an die Mittelmosel. Er war ab Anfang Mai 1944 in Cochem und löste den 1. Lagerführer SS-Hauptsturmführer Rudolf Beer ab, nachdem es zu der bereits geschilderten Massenflucht von 21 Häftlingen am 24. April 1944 gekommen war. Scheffe wurde im Juni 1944 zum SS-Hauptsturmführer befördert und verließ Cochem dann am 9. Juli 1944. Sein Nachfolger war der SS-Untersturmführer Heinrich Wicker, der bis zur Auflösung des Lagers im September 1944 in Cochem blieb.
Wie alle Lagerführer wohnte Scheffe privat in Bruttig bei Frau Frieda Hess, Haus Nr. 139 auf der Straße nach Fankel, ungefähr 200 Meter vom Lager. Zu seinem Tagesablauf heißt es in dem Bericht seines Verteidigers wie folgt:
Tagesablauf des Lagerführers
„Er frühstückte morgens gegen 7 Uhr auf der Geschäftsstelle (Schreibstube des Lagers), wo er Truppenverpflegung empfing.
Um halb 8 Uhr begann er mit der Inspektion des Lagers, was ihn nicht länger als eine halbe Stunde in Anspruch nehmen durfte. Dann wurde er vertreten durch den Lagerführer Keller, einen Oberschlesier, der durchaus vertrauenswürdig erschien. Der Küchenchef war ein Obergefreiter der Luftwaffe namens Martin, über dessen tadellose Amtsführung der Kaufmann Andreas Scherer in Lichtenfels Auskunft geben kann. (...) Scheffe brauchte also nach seiner Auffassung keine Sorge zu haben, dass in Bruttig in seiner Abwesenheit nicht in jeder Hinsicht für die Häftlinge ordnungsgemäß gesorgt worden wäre. Um 8 Uhr etwa pflegte Scheffe nach Cochem herüberzufahren, um dort Besprechungen mit dem Führungsstab abzuhalten, sich mit dem Wirtschaftsamt ins Benehmen zu setzen, Post abzuholen und die Milchzufuhr durchzuführen. Dies musste bis halb 10 Uhr etwa erledigt sein. Um ¾ 10 Uhr etwa wurde das Kommando am Bahnhof Cochem revidiert, insbesondere die Postenkette überwacht, sowie danach das sogenannte Kommando Trafo. Bis um 10 Uhr musste das alles beendet sein. Dann wurde das Kommando am Bahnhof Karden in Augenschein genommen. Gegen 11 Uhr konnte Scheffe dann frühestens in dem wie gesagt 20 km entfernten Lager Treis erscheinen.
Im Tunnel war eine Postenkette abzugehen, die 2 km auseinandergezogen war. Bis 12 Uhr konnte bei flotter Gangart, und wenn nichts Besonderes vorfiel, dies erledigt sein. Dann begann der Dienst im Lager Treis. Hier stand Scheffe der Lagerführer Steininger zur Seite und ein Feldwebel der Luftwaffe Riedel aus Wien. Der Verbleib der beiden genannten ist unbekannt, desgleichen der Verbleib des Küchenchefs, dessen Name in Vergessenheit geraten ist. (…)
Scheffe musste froh sein, wenn er gegen 1 Uhr mit den notwendigsten Geschäften in Treis fertig war, sodass er gegen halb 2 Uhr wieder in Bruttig essen und auf der Geschäftsstelle sein konnte. Unverzüglich, ohne eine Stunde der Mittagspause, begann er dann wieder den Dienst auf der Geschäftsstelle und mit der Revision der Postenkette im Tunnel Bruttig.
Der drei Kilometer lange Tunnel musste abgegangen werden, was vielleicht bis gegen mittags 5 Uhr geschafft sein konnte. Dann war die Kiesbaggerstelle in Augenschein zu nehmen, die Baustelle Fankel, die Baustelle Ebernach, kurz es war eine derartige Fülle weit verzweigter Arbeit zu leisten, dass es einer mindestens monatelangen Beschäftigung in Treis-Bruttig bedurft hätte, um nur mit einiger Sicherheit festzustellen, wo man die Dinge laufen lassen konnte, wie sie durch die Unterführer geleitet wurden und wo man hingegen ständig ein Augenmerk darauf zu richten hatte.“
Joachim Henning