Erste Premiere nach Corona-Shutdown im Schlosstheater Neuwied: Landesbühne zeigt: Corona Papers

Man sollte einander vermissen

Man sollte einander vermissen

Madeleine Niesche als Sascha und Carl Bruchhäuser als Nik. Foto: Benjamin Westhof

Man sollte einander vermissen

Lajos Wenzel begrüßte die Besucher zur Uraufführung. Foto: HE

Man sollte einander vermissen

Nik glaubt an eine Verschwörung. Foto: Benjamin Westhof

Neuwied. Noch ist ein wenig Konfetti in der Handtasche. Ganz unten. In der letzten „realen“ Premiere im Schlosstheater erschien zum krönenden Abschluss das Neuwieder Prinzenpaar mitsamt Gefolge und schoss mit der Konfettikanone ins voll besetzte Haus.

Dann kam Corona.

Die Kulturszene litt ganz besonders, denn zunächst standen gesundheitliche und dann wirtschaftliche Themen im Mittelpunkt des Interesses. Wo aber blieb die Kultur? Intendant Lajos Wenzel und sein Team gaben sich nicht geschlagen. Sie organisierten kurzerhand Vorstellungen, die die verhinderten Theaterbesucher zuhause am Computer mitverfolgen konnten. Den Anfang machte die vom Shutdown überraschte Premiere „Mein Sohn Ludwig“, die am Originalschauplatz des Beethoven-Mutterhauses in Koblenz Ehrenbreitstein hätte stattfinden sollen. Sie wurde am 14. März via Facebook ausgestrahlt, und statt der geplanten 30 Zuschauer waren es ca. 4000 Menschen, die sich diese sehenswerte Vorstellung ansahen. Dann musste der Theaterbetrieb erst einmal „auf Tauchstation“ gehen, aber wer dachte, das war´s, der irrte. Zur Osterzeit gab es via Internet das zuvor gegebene Stück „Don Carlos“ mit Altintendanten Walter Ullrich an drei Abenden zu sehen. Und für die gebeutelten Kinder, die nicht nur das Theater vermissten, wurden Märchenlesungen und Kindertheater inszeniert, alles auf der Originalbühne und ohne Einnahmen, versteht sich.

Uraufführung nach dem Shutdown

Jetzt durften die Theater in Rheinland-Pfalz ihre Besucher wieder einlassen, so auch die Landesbühne, aber unter speziellen Voraussetzungen: Nur jede zweite Reihe wurde besetzt, immer drei Sitze Abstand zwischen den Zuschauern. Daher fand die Uraufführung des Stückes „Corona-Papers“ vor 66 Zuschauern statt, die allerdings restlos begeistert waren. Und der Zuschauersaal passte perfekt zum Stück und zum Inhalt, selten gab es eine so große Übereinstimmung. Das war zweifellos dem Thema geschuldet, denn es ging in „Corona Papers“ um das Thema Corona und den Shutdown.

Gespenstisch und irgendwie „strange“

Intendant Lajos Wenzel geleitete die Besucher einzeln und nacheinander zu ihren Plätzen, von vorne nach hinten, ohne Ansehen der Person. Genauso, nur umgekehrt, leerte sich dann der Saal auch wieder am Ende der Vorstellung, ein bisschen fühlte es sich an wie in einem Science-Fiction-Roman, gespenstisch und irgendwie „strange“.

Dann wurden die Gäste von Lajos Wenzel begrüßt: „Seit dem 15. März war dieses Theater geschlossen, von heute auf morgen befanden sich unsere Mitarbeiter in der Kurzarbeit“, berichtete er, „aber wir kämpfen für das, wofür wir leben. Die Kultur ist ein wichtiger Bestandteil unseres Lebens. Dieses Theater entstand in einer besonders schwierigen Zeit 1938, und gleich nach dem Weltkrieg wurden die Landesbühnen gegründet, um die Kultur ins Land zu bringen, zu den Menschen zu.“ Da jetzt jedoch keine Aufführungen im Haus mehr möglich waren, sei man auf das Internet ausgewichen. Und da hat das Team der Landesbühne ganze Arbeit geleistet. Eigentlich war das Projekt ´Corona Papers` fürs Internet geplant, die Zuschauer wurden von Anfang an beteiligt. In regelmäßigen Abständen konnten sie auf der Facebookseite an Besprechungen und Proben zum Stück teilnehmen. „Man will ja nicht nur das fertige Menü sehen, sondern auch den Koch und die Küche“, so Intendant Wenzel. „Umso mehr freut es uns, dass wir nun die Uraufführung hier live mit lieben Gästen feiern können.“ Und die hatte es dann in sich.

Zum Inhalt

Sascha, berufstätige Frau mit Mann und zwei Kindern, lebt auf 200 qm mit ihrer Familie, arbeitet im home-office, betreut und beschult zwei halbwüchsige Kinder und muss feststellen, dass die Rolle der Hausfrau und Mutter sowie der Betreuerin des alten Vaters wieder vollkommen an ihr hängenbleibt. Wer kennt das nicht: Emanzipation der Frau gern, aber nur, wenn der Haushalt organisiert ist. Aber die Zugehfrau fehlt wegen Corona, und so schraubt sich die Zeit mühelos 50 Jahre zurück. Und als der alte Herr auch noch verschwindet und sie ihn suchen muss, trifft sie auf Nik, einen „Computernerd“, der sich im Netz mit seinen Freunden trifft und beim Surfen auf die verschiedensten Verschwörungstheorien aufmerksam wird. Diesen erliegt er allesamt, fühlt sich beobachtet, ja überwacht und bereitet sich auf den sicherlich bevorstehenden Einsatz eines SEK in seiner Wohnung vor. Inzwischen deklamiert er für das Publikum über die sogenannten „Corona-Papers“: „Sie holen uns alle, erst die Alten und Schwachen, dann die Kinder und dann uns!“ oder „Die suchen mich, weil ich die Wahrheit kenne.“

Dann nimmt die Handlung Fahrt auf. Sascha gerät auf der Suche nach dem Vater an Niks Haustür, dieser glaubt, seine Verhaftung stehe bevor. Er zerrt sie in seinen Lieferwagen, sie geraten in eine Demonstration, er wird verletzt und tatsächlich verhaftet und wegen Entführung angeklagt. Zwischenzeitlich ist das „Opfer“ auch gemeinsam mit dem Täter auf der Flucht...

Dies alles wird höchst eindrucksvoll auf die Bühne gebracht von zwei Schauspielern, die sich tatsächlich während der kompletten Handlung nicht nahe kommen, aber mit der Brillanz ihres Spiels die Zuschauer in Atem halten. Unterstützt werden sie von einer Kamera und zwei Bildschirmen, je einer auf jeder Seite der Bühne. Diese ist in der Hälfte geteilt durch eine selbstgebaute Holztrennwand mit Klarsichtfolie umwickelt – der eine oder andere wird sie aus den Anfängen des Shutdowns als provisorischen Spukschutz kennen, bevor die zweifellos eleganteren Lösungen Platz machten. Madeleine Niesche als Familienmanagerin Sascha und Carl Bruchhäuser als Nik spielen gleichzeitig auf beiden Bühnenhälften, lösen sich übergangslos in ihren Monologen ab und vermitteln dem Zuschauer ein jeweils exaktes Bild ihrer jeweiligen Gemütslage. Beide wissen im Grunde nicht mit der neuartigen Lage umzugehen. Sascha geht es pragmatisch an, das hat sie gelernt, Nik versteht die Welt nicht mehr und sucht Erklärungen, die er bei Wutbürger 23 zu finden meint. Am Ende dann die Überraschung: Ein Blick hinter die Kulissen – und das ist auch wörtlich gemeint für das hervorragend gestaltete und doch fehlende Bühnenbild: Der Verein „Tatenlos“ - Nomen est Omen - hat dem ahnungslosen Nik eine Falle gestellt, um ihm den Unsinn seiner Verschwörungstheorien aufzuzeigen. „Ich teile Informationen“, so sein Kommentar. Dem Publikum, das immer noch auf Abstand verharrt, wird klar: Informationen werden nicht dadurch wahr, dass sie millionenfach geteilt oder geliked werden, aber sie verbreiten sich immer schneller via Internet, ohne eine wirkliche Überprüfung fürchten oder ihr standhalten zu müssen.

Das Fazit: „Menschen verschwören sich, das kann man nicht verhindern. Sie können einander nicht überzeugen, wirklich ändern können sie sich nur von innen heraus. Und du?“

Langanhaltender, hochverdienter Applaus belohnte die Künstler, die Darsteller Madeleine Niesche und Carl Bruchhäuser, Regisseur und Intendanten Lajos Wenzel und das Team NUANS (Bühne), Sylvia Rüger (Kostüme), Thomas Riemenschnitter und Axel Koltermann (Technische Leitung) und Tyra Darlington (Inspizienz). Brillant, sehenswert und von der ersten bis zur letzten Sekunde spannend. Eine Symbiose von Publikum und Darstellern. Perfekt!

Karten und Informationen

Die Aufführungen finden noch bis zum 3. Juli statt. Tickets und weitere Informationen gibt es wie gewohnt über www.schlosstheater.de oder unter 02631 – 222 88.-HE-