Leserbrief

Der „wahre Erbe“ von 1832

Neuwied. Die Forderung nach einem starken Deutschland stellt die Denkungsweise der AfD deutlich heraus. Was die führenden Köpfe der Partei wohl vergessen, ist die Tatsache, wo jemand stark ist, wird ein anderer immer schwach sein. Neid und Missgunst auf das, was der andere hat, sind die Folge davon und führen zu Krieg und Elend, wie Deutschland und Europa es bereits in zwei Weltkriegen bitter erfahren durften. Die liberale Bewegung von 1848, zu der auch das Hambacher Fest von 1832 gehört, hatte dabei keinesfalls ein starkes Deutschland im Sinn, sondern einen einheitlichen Verfassungsstaat, der die Willkürherrschaft, die katastrophale Wirtschafts- und Zollpolitik und die Zensur der Fürsten und Monarchen nicht nur in den deutschen Staaten beendet. Diese Ziele wurden letztlich durch die liberale Bewegung, aus der sich auch die Sozialdemokratie heraus entwickelte, durch die Revolution von 1848 teilweise im Kaiserreich und vollständig in der Weimarer Republik beziehungsweise der Bundesrepublik Deutschland umgesetzt. Der „wahre Erbe“ von 1832 hat leider nicht verstanden, dass die Meinungsfreiheit in Deutschland seit mindestens 67 Jahren in einem Verfassungsstaat gilt, in dem vor dem Gesetz alle Menschen gleich sind, die Menschen keinerlei Willkürherrschaft von Politikern ausgesetzt sind, jeder seine Meinung frei sagen darf und die Zollschranken zwischen den deutschen Staaten und vielen europäischen Ländern bereits gefallen sind. Wer sich in die Tradition des Hambacher Festes von 1832 stellen möchte, sollte dabei im Hinterkopf behalten, dass nicht nur Deutsche am Hambacher Schloss für einen Verfassungsstaat eingestanden haben, sondern auch Polen, Briten und Franzosen. Sie alle kämpften international gegen die überholten monarchischen und traditionellen (Denk-)Strukturen, die eine rückwärtsgewandte und restaurative Politik betrieben, so wie es die AfD aktuell in der Familienpolitik mit einem erzkonservativen Familienbild aus den 1950er Jahren oder der Rückbesinnung auf den Nationalstaat in einer europäischen Wertegemeinschaft betreibt. Die Teilnehmer des Hambacher Festes von 1832 würden heute wohl eher für ein Mehr an Europa einstehen und eine funktionierende Vereinigung der europäischen Verfassungsstaaten anstreben als veraltete nationale Strukturen wieder hervorzukramen, die in einer globalisierten Welt nicht bestehen.

Thomas Napp, Rheinbreitbach