Redaktionsgespräch mit Guido Orthen, Bürgermeister von Bad Neuenahr-Ahrweiler

Wiederaufbau Ahr ist ein Bürokratiemonster

Wiederaufbau Ahr ist ein Bürokratiemonster

Bürgermeister Guido Orthen (l.) besuchte Susanne Tack und Hermann Krupp in Sinzig zum Redaktionsgespräch über den Wiederaufbau an der Ahr. Foto: WP

Rund zwei Jahre ist es her, dass eine Flutwelle durch das Ahrtal wütete und verheerende Schäden hinterließ. Auch wenn Politikerinnen und Politiker aus Bund und Land versprachen, dass die materiellen Schäden schnell behoben sein würden: Es wird absehbar viel Zeit in Anspruch nehmen und zehrt an den Kräften. Guido Orthen, Bürgermeister von Bad Neuenahr-Ahrweiler, gehört zu den Verantwortlichen in der Kommune, die jeden Tag mit den Folgen der Flut konfrontiert werden. Im Redaktionsgespräch im Krupp-Medienzentrum berichtete er über sichtbare Erfolge und ernüchternde Erlebnisse auf dem Weg zurück zur Normalität.

Sinzig. Zunächst einmal der Versuch einer Bestandsaufnahme: Hermann Krupp fragt, was schon erledigt ist seit der Flut. Die Versorgungsinfrastruktur, also Wasser, Strom, Abwasser und Wärme funktioniert wieder, antwortet Guido Orthen. Brücken, Straßen, Geh- und Radwege, Parkanlagen, Kitas und andere Teile der Infrastruktur sind als Provisorien hergestellt. „Unsere städtischen Schulen sind unmittelbar nach den Sommerferien 2021 wieder in Betrieb gegangen und werden jetzt aufwändig saniert.“ Fast 80 Prozent der 120 von der Flut betroffenen städtischen Hochbauten sind in der Sanierung.

Viele Maßnahmen sind aus der Planungsphase inzwischen in die Umsetzung gegangen, viele Erfolge sind schon für die Menschen sichtbar, so der Bürgermeister. „Kitas öffnen wieder, Sportstätten werden wieder genutzt.“ Weitere Projekte wie die Landgrafen- und Bachemer Brücke sowie die Innenstadtgestaltung werden in den städtischen Gremien diskutiert und sollen zeitnah in die Umsetzung gehen. „Und es ist sehr schön und für das Leben in der Stadt besonders wichtig, dass über 300 Einzelhändler, Geschäfte, Gastronomie, Dienstleister und Gesundheitsbetriebe neu oder wiedereröffnet sind. Und auch Feste und Veranstaltungen finden wieder statt.“

„Kann man den Geschäftsleuten irgendwie Mut machen?“ „Ja, das geht, und viele machen es vor“, so Orthen, „abseits von Politikerblasen“.

Status Quo wiederherzustellen nicht immer sinnvoll

Nicht alles lief gut, weiß Susanne Tack. Was war das und „wo fehlte bisher die Unterstützung“? Der Fachkräftemangel macht sich auf den Baustellen besonders bemerkbar.

„In vielen Bereichen ist es nicht unbedingt sinnvoll“, sagt Guido Orthen, „nur den Status Quo vor der Flut wiederherzustellen. Wo etwas neu gedacht und verbessert werden soll, greifen in der Regel die finanziellen Fördermittel aus der Aufbauhilfe von Bund und Ländern nicht.“ Aber das ist doch verrückt, so Susanne Tack, alles so aufzubauen, wie es war, wenn man es in dem Zuge auch verbessern kann. Der Bürgermeister vermutet eine Angst vor den Rechnungshöfen.

Zu viele Bürokraten am Werk?

Sind da zu viele Bürokraten am Werk? Die eindeutige Antwort: „Ja!“ Orthen bemängelt „zu viel Ängstlichkeit und zu wenig Vertrauen, dass Bürger und Verwaltungen es vernünftig machen, ohne gleich goldene Wasserhähne zu bauen“.

Ob es eine Chance gebe, dass sich etwas ändert, fragt Hermann Krupp nach. „Wir arbeiten daran, dass der Wiederaufbaufonds anders ausgelegt wird.“

„Bei der bisherigen Arbeitsweise werden wir nicht fertig!“

Guido Orthen begrüßt eine Verlängerung der Antragsfrist für die Wiederaufbauhilfe bis Juni 2026. „Aber nach wie vor hören wir von Schwierigkeiten bei der Intensität der Antragsprüfung sowohl bei Privatleuten und bei Betrieben.“ Er macht insbesondere die Aufsichts- und Genehmigungsdirektion (ADD) und das rheinland-pfälzische Innenministerium aus. „Hier würden wir uns wünschen, dass doch etwas pragmatischer und mit mehr Mut gearbeitet würde.“ Bei Hunderten Förderanträgen mit umfangreichen Rückfragen, Besprechungen und Ortsterminen gehe es erst weiter, „wenn auch der letzte Sachbearbeiter bereit ist, seinen Haken unter den Antrag zu setzen. Bei der bisherigen Arbeitsweise werden wir nicht fertig!“

Große Fortschritte bei vielen Wiederaufbau-Maßnahmen

Was steht als nächstes an? In diesem Jahr sollen die Bürgerinnen und Bürger auch im Rahmen der #wiederbunt-Kampagne stärker in die Wiederaufbau-Prozesse eingebunden werden, etwa durch Baustellenbesichtigungen aber auch beim gemeinsamen Feiern von Fortschritten und Erfolgen. Bei Bürgerinformationen und -beteiligungen sollen die Menschen unmittelbar mitwirken und miteinander ins Gespräch kommen.

Guido Orthen berichtet von großen Fortschritten bei vielen Wiederaufbau-Maßnahmen, etwa der Entwurfsplanung und Umsetzung der Brücken, bei der Innenstadtgestaltung und von Arbeiten an Schulen, Kitas und Sportstätten. Planungen für weitere Tiefbaumaßnahmen können vorangetrieben werden. „Hier wollen wir im Herbst einen Fahrplan erarbeitet haben, damit nicht nur wir, sondern auch die Bürgerinnen und Bürger planen können und wissen, was wann angegangen werden soll.“ Der Bürgermeister zeigt sich zuversichtlich, dass für viele Uferabschnitte bis Jahresende Planungen für die Wiederherstellung des Ahrufers vorliegen und hofft, dass der Landkreis die Bereiche, für die er verantwortlich ist, ebenso plant und umsetzt.

„Mut zur Entscheidung vorleben“

Hermann Krupp fragt, wo der Kreis Ahrweiler, das Land Rheinland-Pfalz und der Bund stärker unterstützen sollten. „Beim Bauplanungsrecht“, antwortet Orthen. „Streit auf bundespolitischer Ebene blockiert derzeit die Umsetzung der Baugesetz-Novelle.“

Die Beschleunigung der Antragsverfahren sei sehr dringlich. „Hier sehe ich das Land in der Pflicht, zwei Jahre nach der Flut das Versprechen einer schnellen und insbesondere unbürokratischen Hilfe einzulösen. Wenn ein Förderbescheid erst bei Einweihung einer Einrichtung übergeben wird, dann stimmt hier etwas nicht.“

Zudem sei wichtig, „dass der Kreis Ahrweiler für eine zügige Abarbeitung und Genehmigung von Bauanträgen sorgt“. Hermann Krupp hakt nach: „Fehlt den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern in der Kreisverwaltung auch schon einmal der Mut zu Entscheidungen?“ Die Antwort des Bürgermeisters: „Es ist in allen Behörden wichtig, dass Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter wissen, dass der Mut zur Entscheidung von oben vorgelebt wird.“

„Mir geht es wie vielen in unserem Tal“

„Fühlen Sie sich manchmal alleine gelassen?“ Die beeindruckend ehrliche Antwort: „Mir geht es wie vielen in unserem Tal. Da fahren die Gefühle manchmal noch Achterbahn. Es gibt Tage, an denen man sich an kleinen und großen Fortschritten erfreuen kann. Und dann gibt es Momente, in denen eine zermürbende Bürokratie, allzu hohe Erwartungen und das schleppende Vorankommen die Lebenskraft zu rauben scheint.“

Er sei „sehr dankbar“, fährt er fort, „dass wir uns auch zwei Jahre nach der Flut noch über großartige Unterstützung durch ehrenamtliches und freiwilliges Engagement von Helferinnen und Helfern sowie Unternehmen freuen dürfen. Auch bei den übergeordneten Behörden nehme ich Verständnis und Unterstützungswillen wahr. Aber im tatsächlichen Verwaltungshandeln wird diese grundsätzlich positive Haltung leider nicht immer im gewünschten Umfang in Arbeitsergebnisse umgesetzt.“

Krupp: „Kann man als Bürgermeister in dieser Situation abschalten?“ Orthen: „Nein!“ Krupp: „Wie lange hält man das durch?“ Orthen: „Weiß ich nicht.“ Er erzählt von 70-Stunden-Wochen als Dauerzustand. Er schafft es seit der Flut nicht einmal, Mittagspause zu machen. „Es ist alles ambivalent, auch die Gefühlslage in der Bevölkerung.“

Was er den Menschen sage, um sie zu beruhigen, wenn der Frust kommt, fragt Susanne Tack. „Ich reagiere gerne auf Kritik, die konkret ist. Dann können wir sachlich diskutieren.“ Er erwartet zudem von Kritikern, dass sie eine Alternative anbieten.

Zeit und Mittel begrenzt – Prioritäten müssen gesetzt werden

Glaubt der Bürgermeister, dass die Bürgerinnen und Bürger von Bad Neuenahr-Ahrweiler mit dem derzeitigen Stand des Wiederaufbaus zufrieden sind? Guido Orthen zeigt sich realistisch. Bei der Vielzahl der Herausforderungen und Aufgaben in Kombination mit den sehr unterschiedlichen Bedürfnissen und Wünschen der Menschen in der Stadt sei es beinahe unmöglich, alle Menschen zugleich zufrieden zu stellen. „Leider sind Zeit und Mittel begrenzt, sodass Prioritäten gesetzt werden müssen.“ Auch im privaten Wiederaufbau stehe man noch vor großen Herausforderungen. Der nachhaltige und zukunftsorientierte Wiederaufbau dauere an manchen Stellen „länger als auch wir es uns wünschen würden“. Er versichert, man wolle alle Bereiche und Bedürfnisse im Blick haben, „damit sich niemand im Stich gelassen fühlt“.

„Hochwasserschutz ist für mich die wichtigste Aufgabe.“

Wie lange dauert es, bis alle Maßnahmen abgeschlossen sein werden? Hermann Krupp hörte mal zehn Jahre. Ministerpräsidentin Malu Dreyer versprach doch einen schnellen und unbürokratischen Wiederaufbau.

Aussagekräftige Prognosen seien aber gerade noch schwierig, weiß Bürgermeister Orthen. „Viele Probleme sind komplex.“ Er nennt ein Beispiel: In seiner Kommune arbeite man daran, gegen ein hundertjährliches Hochwasserereignis gewappnet zu sein. Dazu müssen Modellierungen an Böschungen geschaffen werden. Bis das abgeschlossen ist, sind aber Parkanlagen und Radwege nicht planbar. „Es ist aber unabdingbar, das zu tun. Hochwasserschutz ist für mich die wichtigste Aufgabe. Aber die damit verbundenen Planungsprozesse sind kompliziert und dauern länger“, so Orthen.

Hochwasserschutz für die gesamte Ahr bereitet Sorge

Was bereitet dem Bürgermeister die größte Sorge? „Der Hochwasserschutz für die gesamte Ahr.“ Auch an den Zuläufen sei noch nichts geschehen, klagt Guido Orthen. „Das beunruhigt schon.“ Ein Zweckverband mit dem Ziel, den Hochwasserschutz für die gesamte Ahr zu regeln, müsse über vier Landkreise und bis nach NRW mit allen beteiligten Gebietskörperschaften besetzt sein. Das sei immens wichtig, denn „das Wasser muss an den Zuläufen zurückgehalten werden“. Das Land habe sich lange geziert, mitzumachen; jetzt sei es dabei und deshalb könne der Verband jetzt loslegen.

Wie sieht Bad Neuenahr-Ahrweiler aus, wenn die Arbeiten abgeschlossen sind? „Vielerorts anders als vor der Flut, aber mindestens genauso schön. Die Stadt soll dann nachhaltiger sein, resilienter, lebenswert für alle Menschen und #wiederbunt.“

WP