Dierdorf gedenkt der 1938 ermordeten jüdischen Mitbürger

Trauerfeier an der Stadtmauer, wo einst die jüdische Synagoge stand

Pfarrer Coelmann verlas die Namen von 113 Opfern

13.11.2017 - 11:14

Dierdorf. Ganz in der Nähe stand eine jüdische Synagoge. Viel ist aber nicht mehr zu sehen vom einst blühenden jüdischen Leben in Dierdorf. Eine Gedenktafel ist noch angebracht an der Dierdorfer Stadtmauer. An dieser Stelle treffen sich jedes Jahr am Abend des 9. November Bürger aus der Stadt. Sie gedenken der Verbrechen, die in dieser Nacht, der sogenannten „Reichspogromnacht“, an den damals jüdischen Mitbürgern begangen wurden.

Die Gedenkfeier an der Dierdorfer Stadtmauer wurde geleitet von Pfarrer Patrique Coelmann, Stadtbürgermeister Thomas Vis und Verbandsgemeinde-Bürgermeister Horst Rasbach. Thomas Vis ging in seiner Ansprache auf die Bezüge dieser Gräueltaten zur Stadt Dierdorf ein. Er sagte: „Jene Nacht vom 9. auf den 10. November 1938 war auch in Dierdorf, aber auch in den Nachbargemeinden, in fast allen Städten in Deutschland eine schreckerfüllte Nacht. Die Synagoge, die hier in der Nähe stand, wurde in Brand gesteckt. Deshalb hat dieser Ort und auch die Gedenktafel eine große Bedeutung für unsere Stadt. Das gilt auf für den jüdischen Friedhof zwischen Dierdorf und Giershofen, der des Öfteren von Nachkommen jüdischer Familien aus dem Ausland besucht wird. Die damals Verfolgten waren Menschen wie du und ich. Sie waren die Opfer. Sie lebten zumeist schon über viele Jahre in Generationen hier in Dierdorf und Umgebung. Sie gingen dort wie alle anderen ihren Berufen nach und pflegten ihr Familienleben. Sie begeisterten sich für Kultur und Sport oder engagierten sich für allgemeine Belange. Sie waren - wie man heute sagen würde - voll integriert. Umso erschreckender war die Systematik, mit der die Pogrome von Deutschen - vielleicht sogar Nachbarn und guten Bekannten - durchgeführt wurden.“

Der Stadtbürgermeister sagte, Deutschland habe sich dem dunkelsten Kapitel seiner Geschichte gestellt und sich in langen, teilweise auch schmerzhaften Debatten mit der Vergangenheit auseinandergesetzt. Thomas Vis: „Wir haben eine Erinnerungskultur entwickelt, die die deutsche Verantwortung für den Holocaust und den Zweiten Weltkrieg anerkennt und die herausstellt, was wir in unserer Gesellschaft nicht akzeptieren beziehungsweise welche Werte wir hoch achten.“ Er betonte, wie wichtig es sei, sich zu erinnern, zu besinnen und zu informieren und dies auch weiterzugeben an die jungen Generationen. Dabei gelte es, immer wieder nach neuen Wegen zu suchen, um diese nachwachsenden Generationen anzusprechen. Denn: „Für die Jugendlichen von heute, aber auch viele Erwachsene, ist die NS-Zeit Geschichte, mehr oder weniger wie andere weit zurückliegende Epochen auch. Ein persönlicher Bezug ist immer weniger vorhanden, da bereits viele Großeltern zu den Nachgeborenen gehören oder die eigene Familie aus einem anderen Land stammt.“ Gedenktage wie der am 9. November böten auch eine Chance, sich öffentlich zu vergewissern, was einer Gesellschaft wichtig ist. Wer die Erinnerung an geschichtliche Vorgänge bewahre, setze ein Zeichen für eine friedvolle Zukunft.

Im Anschluss an seine Rede bedankte sich Thomas Vis bei den Konfirmanden, die mit ihren Fürbitten einen Beitrag zur Gedenkstunde leisteten. Die Jugendlichen Philipp, Maya, Soraya, Sonja und Felix trugen ihre Bitten vor.


Man gedachte der Menschen, die in dieser Nacht starben


Im Zentrum der Gedenkfeier stand das Vorlesen der Namen der in der Reichskristallnacht ermordeten jüdischen Dierdorfer Mitbürger. Pfarrer Patrique Coelmann hatte diese Aufgabe übernommen. Am Ende waren es 113 Namen von jüdischen Mitmenschen, die in dieser Nacht in Dierdorf oder aufgrund der späteren Misshandlungen ihr Leben lassen mussten. Die Liste zusammengestellt hat der Dierdorfer Bürger und Historiker Michael Mayer, der auch an der Gedenkfeier teilnahm. Er hat sich auch um die Freilegung und Archivierung der Namen auf den Gedenksteinen des jüdischen Friedhofs in Dierdorf gekümmert. In seinen fünf Büchern beschreibt Michael Mayer auch die Lebensgeschichten von vielen dieser ehemaligen jüdischen Dierdorfer Bürgern. Pfarrer Coelmann sagte nach der Gedenkstunde im Gespräch mit „BLICK aktuell“: „Was nicht passieren darf ist, dass wir die Namen verlieren. Das ist zum Beispiel auch die Aufgabe der jüdischen Gedenkstätte Yad Vashem. Sie stehen jeder für sich für eine ganze Lebensgeschichte und die Geschichte einer Familie.“ Selbst Michael Mayer, der jeden einzelnen Namen dieser in Dierdorf ermordeten Juden recherchiert hat, sagte nach der Trauerfeier: „Als ich hier noch einmal jeden einzelnen Namen gehört habe, war mir ganz anders. Das Hören ist noch einmal etwas ganz anderes als das bloße Ablesen.“ Michael Mayers Ehefrau Roswitha sagt: „Es kommen heute noch immer Angehörige nach Dierdorf, um etwas über das Schicksal ihrer Verwandten zu erfahren. Wir haben öfters schon Gäste aus Israel bei uns gehabt.“

Seit 2005 lebt das Ehepaar Mayer in der Hachenburger Straße in Dierdorf. Er sagt: „Als wir hierher zogen, gingen wir am jüdischen Friedhof vorbei und dachten, da kaufen wir uns mal ein Buch drüber und lesen etwas über die Geschichte der Juden in Dierdorf. Es gab aber nichts. Also dachte ich mir, fange ich doch mal an. Mit dem Friedhof ging es los. Dann hat mich das Thema nicht mehr losgelassen. Zum Schluss bin ich über die Dierdorfer Juden auf über 3.500 Menschen in ganz Deutschland gestoßen, auch in den USA und in Kanada. Meine Bücher gibt es außer in Deutschland in den USA, in Ecuador, in Kolumbien, in England und in Israel. In allen diesen Ländern leben Verwandte der Dierdorfer Juden. Letztes Jahr war zum Beispiel die Enkelin von Ferdinand Strauß mit ihrer Tochter bei uns zu Besuch. “ Auf diese Art erfährt Michael Mayer heute noch weitere Details über die Familien der Juden, die einst in Dierdorf gelebt haben.

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