Neulich an Gleis 2
von Gregor Schürer
Ich bringe meine Tochter zum Zug. Sie hat uns besucht, muss nun zurück nach Hause. Falls Sie regelmäßige Leser meiner Kolumne sind: Dieses Mal ist es die andere Tochter und sie fährt nach Bonn. Aber auch sie hat es gern, wenn Papa sie bis zum Bahnsteig bringt.
Ihr Regionalexpress fährt auf Gleis 1. Der Zug hat Verspätung. Nichts Ungewöhnliches, auch und gerade an einem Freitagabend. Eigentlich hätte er um 19:11 Uhr fahren sollen, er ist schon mehr als eine halbe Stunde drüber. Egal, wir warten und unterhalten uns, der Bahnsteig füllt sich.
Kurz vor acht erfolgt die Durchsage, dass der verspätete Zug nun gleich einfahren wird, allerdings an Gleis 5.
Eine Völkerwanderung kommt in Gang, viele Menschen mit und ohne Gepäck, teils mit Rädern, Kinderwägen oder sonstigen Handicap machen sich auf den Weg, die Treppe hinunter, durch die Unterführung, die Treppe hinauf zu Bahnsteig 5.
Töchterlein und ich gehen als Letzte die Stufen hinab, bilden das Ende der Schlange.
„Langsam, Papa“, mahnt das zugerfahrene und zugaffine Kind. „Wir warten jetzt hier unten, denn um 20:11 Uhr kommt ja bereits der nächste im Stundentakt verkehrende Regionalexpress; der soll auf Gleis 2 einfahren. Und ich steige in den ein, der als Erster kommt, denn der fährt wahrscheinlich auch als Erster weiter.“
Wir bleiben also in der Unterführung stehen und tatsächlich kommt der reguläre Zug vor dem verspäteten an. Während wir die Treppe hochsteigen, beobachte ich, wie eine an Gleis 2 stehende Bahnmitarbeiter mit dem Walkie-Talkie mit jemandem spricht und dann zu dem neben ihr stehende Kollegen sagt: „Der Neunzehnelfer endet hier, es fährt nur der Zwanzigelfer weiter.“ Meine Tochter steigt ein und sucht sich einen Platz, da höre ich den Bahnmitarbeiter in Richtung Gleis 5 hinüberschreien – eine Durchsage über Lautsprecher erfolgt nicht: „Der Zug an Gleis 5 endet hier, steigen Sie alle in den Zug auf Gleis 2.“
Also macht sich der ganze Pulk, der eben an den falschen Bahnsteig geschickt wurde, wieder auf Wanderschaft zu dem nun richtigen Bahnsteig.
Ich bin eigentlich fertig, mein Kind ist verfrachtet und ich könnte heim, aber es kommen so viele Menschen die Treppe hinauf, dass ich keine Chance habe, hinab zu gehen.
Währenddessen fährt der verspätete Zug auf Gleis 5 ein.
Erneut erfolgt keine Durchsage am Bahnsteig, vermutlich hat aber der Zugführer des Neunzehnelfers die Fahrgäste informiert, denn der volle, wenn nicht überfüllte Zug entleert sich vollständig und der Bahnsteig quillt über vor Menschen, die entweder ihr Ziel erreicht haben oder umsteigen müssen in die Bahn, die abfahrbereit auf Gleis 2 steht.
Ich stelle mich derweil in die Tür des Zwanzigelfers, damit er nicht losfahren und die Umsteiger zurücklassen kann.
In der Panik, den wartenden Zug nicht zu erreichen, springen die ersten Fahrgäste auf die Gleise, um schneller auf den gegenüberliegenden Bahnsteig zu kommen, denn an der Treppe staut es sich. Der eben noch schreiende Bahnmitarbeiter bekommt derweil einen Tobsuchtsanfall. Vielleicht sollte er sich lieber fragen, warum der verspätete Zug nicht einfach an Gleis 3 – am selben Bahnsteig gegenüber – gehalten hat, dann hätten alle Fahrgäste rasch und gefahrlos umsteigen können. Denn in dem ganzen Zeitraum, über den ich hier erzähle, fährt kein einziger anderer Zug durch den Bahnhof, weder von rechts noch von links. Stattdessen scheucht er die panischen Menschen zurück auf dem überfüllten Bahnsteig.
Irgendwann sind alle drüben, es dauert, weil manche den Aufzug benutzen müssen und der eben voll ist. Ich verharre in der Tür, bis die letzten eingestiegen sind.
Nun hat auch dieser eben noch pünktliche Zug ordentlich Verspätung, er fährt picke-packe-voll los, ich winke meiner Tochter hinterher.
Eine Bahn-Apokalypse, sagen Sie? Leider nein, ein ganz normaler Freitag im Leben eines Zugreisenden.