Literaturfestival „ganzOhr“ in Koblenz
Literatur ist die gemeinsame Liebe
Markus Dietze und John von Düffel führten ein „Werkstattgespräch“ im Gartensaal des Kurfürstlichen Schlosses
Koblenz. Was sich hinter dem Veranstaltungs-Titel „Literarisches Gespräch über gemeinsame Lieben“ verbergen würde, wusste nicht einmal die künstlerische Leiterin der Koblenzer Literaturtage Ruth Duchstein genau. Eine jahrelange Arbeitsfreundschaft verbindet den Intendanten des Theaters Koblenz, Markus Dietze, mit dem Schriftsteller und Dramaturgen John von Düffel.
Diese Beziehung brachte zuletzt „Alle 16 Jahre im Sommer“ hervor, das Stück, das Düffel in Dietzes Auftrag aus Anlass des 225-jährigen Bestehens des Theaters Koblenz schrieb. Und diese Beziehung führte beide Männer jetzt auf die Cocktailsessel im Gartensaal des Schlosses. Nebeneinander saßen sie dort, zwischen ihnen ein Tisch mit Heften und Büchern von Düffels - literarische Erzeugnisse des 1966 in Göttingen geborenen Mannes, der derzeit Professor für Szenisches Schreiben an der Berliner Universität der Künste ist und als Dramaturg am Deutschen Theater Berlin arbeitet. Über gemeinsame Lieben wollten sie reden, doch eigentlich sprachen sie nur über die eine: die Liebe zur Literatur. Dietze fungierte vorwiegend als Interviewer. Er spielte sich nie in den Vordergrund, die Bühne überließ er ganz dem Gast.
Düffel, den Dietze als passionierten Bahnfahrer vorstellte, reiste für die ganzOhr-Veranstaltung mit dem Zug nach Koblenz. Eine zum Thema Bahnreisen passende Passage aus Düffels Hörspiel „Elite I.1“ las Dietze in dem für ihn typischen hohen Tempo. „Elite I.1“ wurde als Theaterstück im Jahr 2002 im Hamburger Thalia-Theater uraufgeführt. Im Anschluss plauderten beide Theater-Macher über die im positiven und negativen Sinn zu sehende Leiden-schaf(f)t des Bahnfahrens. Darüber hinaus drehte sich das Gespräch fast ausschließlich um Werk und Wirken Düffels, mit verschiedenen Schwerpunkten, die Dietze aus Theaterstücken und Romanen des Autors herausstellte.
Die Angst des Autors vor der Sprachlosigkeit
Es ging um Veränderungen, Angst und Gefahren. Veränderungen von Lebenssituationen, die sich auf Literatur-Vorlieben auswirken, Ängste eines Autors davor, dass einmal keine Sätze mehr kommen, Gefahren in dramatischen Situationen auf der Theaterbühne, Gefahren auch durch die Zuschauer. Nämlich dann, wenn sie beginnen, auf ihren Sitzen herumzuruckeln, und anfangen zu husten, statt Beifall zu spenden. Bei alledem kamen die Literaturfreunde vollends auf ihre Kosten. Sie erhielten Einblick in etliche Werke John von Düffels und erfuhren dank Markus Dietze, wie es dem Autor gelingt, in einem scheinbar völlig banalen Dialog ein kleines Universum aufgehen zu lassen. Aus „didaktischem Impuls“ heraus, wie er sagte, lieferte Dietze ein Beispiel, indem er aus „Zeit des Verschwindens“ eine Szene im Café vorlas. In ihr machen Gedankensprünge eine faszinierend komplexe Reise. Dieser zweite Roman von John von Düffel aus dem Jahr 2000 habe für Dietze auch etwas mit Veränderungen zu tun. Bemerkt habe er das erst bei der Vorbereitung auf den Abend. Der Text, der ihm einmal wichtig war, habe ihn jetzt nach Jahren des Nicht-Lesens gar nicht mehr berührt, wohl aufgrund seiner veränderten Lebenssituation.
Ähnliche Erfahrungen mit Veränderungen hatte Düffel mit seinem 1998 erschienenen ersten Roman „Vom Wasser“ gemacht. Drei Jahre und dreihundert Lesungen lang sei das Buch für ihn die Welt gewesen. Fast zehn Jahre lang konnte er es danach nicht mehr vorlesen. Als er es vor ein paar Jahren erstmals doch wieder tat, sei er bei der Lesung in Tränen ausgebrochen. Eine Lese-Kostprobe gab es hintenan. Solche Appetithäppchen gab es auch aus John von Düffels Prosastück „Ostsee“ und dem Buch „Wie Dramen entstehen“. Sie und eine sehr schöne Dietze-Anekdote zu dem Theaterstück „Solingen“ bereicherten den literarisch hochwertigen Abend. In „Ostsee“ beweist sich Langstreckenschwimmer Düffel besonders als Poet. Formulierungen wie „sie haben die Kälte nicht einmal singen hören“, „zartes, verletzliches Eis“ oder „Haut ist dumm“ malen Bilder in die Köpfe der Zuhörer.
Das Gespräch der beiden Freunde drehte sich aber nicht nur um Literatur. Sie redeten auch über ihre Lehrer-Eltern, die für beide auf die eine oder andere Art prägend wirkten. Und Markus Dietze plauderte aus, was John von Düffel und ihn mit dem Theater in Stendal verbindet. Düffel, der zu dem Zeitpunkt noch gar nicht gewusst habe, was ein Dramaturg ist, hatte dort von 1991 bis 1993 seine erste Dramaturgen-Anstellung. Seinen Spuren begegnete Dietze, als er sich einmal zu einem Vorstellungsgespräch im Theater einfand: Es war ein Schrank, den Düffel seinerzeit aus Wut über den Intendanten zerschlagen hatte. Düffel gab zu, früher oft wütend gewesen zu sein, heute wisse er gar nicht mehr, was ihn jeweils so wütend gemacht habe. Aber Dramatiker müssten ja wohl einen Hang zum Dramatischen haben.
Nachdem sich die beiden Literaturfreunde rund neunzig Minuten lang auf diese Art sehr zur Freude des Publikums ausgesprochen hatten, gab es je eine weiße Rose zum Dank und ein dickes Lob von Ruth Duchstein: „Dieser Abend war etwas ganz Rares und Besonderes.“ Sie alle hätten erleben einen vielseitig begabten Autor und einen belesenen Gesprächspartner dürfen, der sich selbst zurücknimmt und die richtigen Fragen stellt.
