Mit einem Federstrich über Schicksale entschieden
An die NS-Opfergruppe der Sinti und Roma aus Koblenz erinnerten der Förderverein Mahnmal, die Christlich-Jüdische Gesellschaft, der Landesverband deutscher Sinti und Roma sowie die Stadt Koblenz
Koblenz. Die erste Rose am Mahnmal Reichensperger Platz befestigte Oberbürgermeister Prof. Dr. Joachim Hofmann-Göttig. Dort wurde der Koblenzer Sinti und Roma am „nationalen Gedenktag für die Opfer des Nationalsozialismus“ gedacht. Die Rose war symbolisch Daweli Reinhardt gewidmet, der als Zehnjähriger in das sogenannte „Zigeunerlager“ Auschwitz-Birkenau deportiert wurde. Er war die Ausnahme – ein Überlebender. Für weitere Opfer, deren Namen der Oberbürgermeister verlas, brachten Schüler der Diesterweg- und Hans-Zulliger-Schule Rosen und Lebensläufe am Mahnmal an. Nach einer Schweigeminute begab sich die große Gruppe der Teilnehmer in die Christuskirche für eine musikalisch von Mike Reinhardt, Gitarre, und Pfarrer i.R. Rainer Bärwaldt, Orgel, umrahmte Gedenkstunde. Hofmann-Göttig erinnerte bei seiner Ansprache daran, dass der Gedenktag auch ein Festtag sei, denn der 27. Januar 1945 war der Tag der Befreiung des größten deutschen Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch sowjetische Truppen. Alles müsse dafür getan werden, damit nie wieder Menschen wegen ihrer Abstammung, Religion oder politischen Überzeugung verfolgt, gequält oder ermordet werden, wie es millionenfach unter Nazi-Deutschland geschah. Er sei stolz und froh, dass heute wieder viele Sinti und Roma in Koblenz leben und viele Bürger gute Kontakte zu dieser Volksgruppe pflegen. Einfach ganz normal miteinander umzugehen, empfahl der Oberbürgermeister, denn niemand der an dieser Gedenkfeier Teilnehmenden habe Schuld auf sich geladen.
Dr. Jürgen Schumacher, Vorsitzender des Fördervereins Mahnmal, nannte in seiner Ansprache die Sinti und Roma, die seit Jahrtausenden zur europäischen Zivilisation gehören und heute mit etwa elf Millionen Menschen die größte Minderheit in Europa darstellen, eine eher friedliche Minderheit. Trotzdem würden sie immer noch sozial ausgegrenzt, diskriminiert und werden immer wieder Opfer rassistisch motivierter Straftaten. Schumacher schilderte die Situation der Volksgruppe ab 1938. Entwürdigende „rassenbiologische Gutachten“ zwecks Feststellung der „Zigeuner-Zugehörigkeit“ dienten ihrer Erfassung. Mit einem Federstrich hätten die Nazis auf diese Weise über das Leben von mehr als 100.000 Menschen entschieden. Von Koblenz aus gab es mindestens drei große Deportationen. Schumacher berichtete von der unmenschlichen Behandlung der Sinti in dem „Zigeunerlager“ in Auschwitz-Birkenau und ihrer Ermordung in Gaskammern.
Für die meisterliche musikalische Gestaltung der Gedenkfeier zollte Schumacher dem Gitarristen Mike Reinhardt, ein Sohn Daweli Reinhardts, viel Anerkennung.
Anerkennung für die Stadt Koblenz
Sogar als Ehre bezeichnete es Jacques Delfeld, der Vorsitzende des Landesverbandes Deutscher Sinti und Roma, Menschen wie Mike Reinhardt, deren Eltern Jahre ihrer Kindheit im KZ zubringen mussten, als Teilnehmer dieser Feier begrüßen zu dürfen. Wie bei ihm gebe es keine Familie der seit über sechshundert Jahren in Deutschland lebenden Sinti und Roma, die durch den Nationalsozialismus keine Angehörigen zu beklagen habe. Delfeld thematisierte die Frage der Mitschuld. An der Verschleppung beteiligt gewesen seien nicht wenige Einzeltäter, sondern breite Teile der Bevölkerung. Polizisten und Gemeindebeamte, Nachbarn, Kollegen und Arbeitgeber sowie eine Vielzahl von Behörden hätten gewusst, was mit den Verfolgten geschehe und geschehen war, die über Nacht aus ihren Wohnungen geholt und in Vernichtungslager transportiert wurden. Auch nach 1945 hätten die überlebenden Sinti und Roma keinerlei Unterstützung durch die Gesellschaft, die ihr Schicksal sogar lange leugnete, erfahren. Obwohl der Völkermord an „unseren Menschen“, wie Delfeld sagte, erst 1982 politisch anerkannt wurde, nicht zuletzt durch die eigene Bürgerrechtsbewegung, in der sich auch Daweli Reinhardt engagierte, zeigten die in ihre Heimat Zurückgekehrten heute eine versöhnliche Haltung und damit menschliche Größe. Der Stadt Koblenz sprach Delfeld seine Anerkennung aus. Sie habe sich in vielerlei Hinsicht ihrer Verantwortung gestellt. Sinti und Roma seien hier politisch und gesellschaftlich eingebunden. Aber das sei nicht überall so. Nach wie vor bestünden Vorurteile, und obwohl die meisten deutsche Staatsbürger seien, hätten sie heute erneut Angst vor rassistisch motivierten Übergriffen. Delfeld mahnte, dass auch die Mitgliedsstaaten der europäischen Union Maßnahmen gegen Ausgrenzung von Sinti und Roma entwickeln müssten.
„Impulse zum Umdenken“
Im Rahmen des nachfolgenden Christlich-Jüdischen Gebets las als Vertreter der Jüdischen Kultusgemeinde Kantor Joseph Pasternak das Stufenlied, Psalm 129, in Hebräisch und in deutscher Übersetzung. Dechant Thomas Hüsch von der katholischen Kirche fragte Gott in seinem Gebet, warum er der Ermordung seines Volkes zugesehen und zu all dem geschwiegen habe. Hans-Werner Schlenzig, Pfarrer i.R. der Alt-Katholischen Kirche, fand sehr offene Worte für die Rolle der Kirche in der Zeit des Nationalsozialismus. Sie habe geschwiegen, als es um die Rechte und den Schutz der Verfolgten gegangen sei. Weder Vatikan noch die Deutsche Bischofskonferenz verurteilten die Deportationen. Auch die evangelische Kirche habe sich nicht geäußert. Mehr als dreißig Jahre lang habe die Kirche die Verbrechen an den Menschen nicht anerkannt. Der Gedenktag solle für alle Religionsgemeinschaften, auch die Alt-Katholische, „Impulse zum Umdenken“ geben.
Von der Evangelischen Kirche rief Superintendent Rolf Stahl, dazu auf, nicht nachlässig darin zu werden, Täter und Taten beim Namen zu nennen.
Kantor Pasternak sprach zum Abschluss der Gedenkstunde einen Segen, bevor sich zum Klang der Orgel die Feiergemeinde langsam auflöste.
BSB
