Andrea Nahles im Redaktionsgespräch mit BLICK aktuell

„Das ist das letzte Interview, das ich als Politikerin geben werde“

„Das ist das letzte Interview, das ich als Politikerin geben werde“

Gewohnt temperamentvoll gibt sich Andrea Nahles bei ihrem letzten Interview als Politikerin gemeinsam mit Ingo Terschanski aus ihrem Wahlkreisbüro im Gespräch mit Corinna und Hermann Krupp beim Krupp-Verlag in Sinzig.

Sinzig. Andrea Nahles ist seit 31 Jahren in der SPD, davon war sie 30 Jahre politisch aktiv. Mit einer Unterbrechung war sie nahezu 20 Jahre Abgeordnete des Deutschen Bundestags. Hermann Krupp bittet sie, ein paar Stationen aus ihrem politischen Werdegang Revue passieren zu lassen. Als Bundestagsabgeordnete vertrat sie stets die Region Rhein-Ahr-Eifel – darauf legt sie großen Wert. Auch wenn es eine Weile dauerte bis sie deutschlandweit nicht mehr als „die Pfälzerin“ begrüßt wurde, erzählt sie lachend.

Eine außergewöhnliche politische Karriere

In Weiler in der Eifel, wo sie aufwuchs und auch heute noch lebt, gründete sie 1989 mit Mitstreitern einen SPD-Ortsverein. Das war schon damals so besonders, dass sogar der damalige Landesvorsitzende Rudolf Scharping darauf aufmerksam wurde. Ortsvereinsvorsitzende blieb sie dann auch 20 Jahre lang. Andrea Nahles wurde schließlich Kreisvorsitzende, Landesvorsitzende der Jusos und Bundesvorsitzende der Jungsozialisten. Letzteres bezeichnet sie als „Unfall der Geschichte“, da eigentlich andere Kandidaten zur Wahl standen. „Das war der Beginn meiner politischen Karriere. Es war nicht geplant gewesen.“ Ihre Zeit als Juso-Bundesvorsitzende bezeichnet sie rückblickend als „sehr erfolgreich“. Als erste Vorsitzende nach Gerhard Schröder schaffte sie den Sprung in den Bundestag. „Und wie wird man dann Ministerin?“, fragt Hermann Krupp. „Durch harte Arbeit.“ Als Vorsitzende einer Organisation musste sie Allrounderin sein, erklärt sie. Parallel sei sie aber auch Spezialistin gewesen; sie war Sprecherin der Bundestagsfraktion für den Bereich Arbeit und Soziales. Das war ganz offensichtlich ihr Thema – so sehr, dass sich niemand wunderte, als sie Arbeits- und Sozialministerin wurde, auch wenn sie selbst nicht daran dachte. Sie musste sich nicht mehr in die Thematik einarbeiten, kannte die Leute im Ministerium. So kam es, dass sie bereits zwei Wochen nach Amtsantritt die ersten Gesetze vorlegen konnte. „Insgesamt habe ich 40 Gesetze auf den Weg gebracht. Ich bin mit der Bilanz zufrieden.“ „Aber wieso beendeten Sie dann Ihre Karriere als Ministerin, wenn Sie so erfolgreich waren?“

Nach der Wahl, erinnert sich Nahles, war „Jamaica“ das Projekt der Bundeskanzlerin. Im Fernsehen wurden ständig die Bilder der Koalitionsgespräche von CDU/CSU, FDP und Grünen gezeigt (jeder hat noch die Bilder vom Balkon in Erinnerung). Die SPD war nach dieser Rechnung die größte Oppositionspartei, Andrea Nahles wurde wieder von der Spezialistin zur Generalistin – und war für einen Monat Oppositionsführerin. Das Platzen der Koalitionsgespräche ergab eine „außerordentliche Situation, in der die SPD sich vorbildlich verhalten hat“. Sie fügt an, es sei eine Entscheidung gewesen, die ihrer Partei wenig Dank eingebracht habe. Auf dem SPD-Parteitag hielt Andrea Nahles eine leidenschaftliche Rede, die zur Zustimmung zu einer erneuten Großen Koalition führte. „Damit habe ich mir viele Feinde gemacht.“ Ein guter Teil der SPD sei nicht mitgegangen. Und sie nahm die Probleme dann mit in ihre Zeit als neue Parteivorsitzende. Ihr Wahlergebnis war mit rund 66 Prozent exakt so hoch wie die Zustimmung zur Großen Koalition.

Wie kommt man als Mensch damit klar?

Corinna Krupp fragt die ehemalige Parteivorsitzende, was von ihr wohl in den Geschichtsbüchern stehen wird. „Ich hoffe, der Mindestlohn“, antwortet sie. Und immerhin sei sie ja auch die erste weibliche Fraktionsvorsitzende der SPD im Bundestag und die erste Vorsitzende der Partei gewesen. „Nach 155 Jahren“, fügt sie an. Die Situation, die im Juni eskalierte und schließlich zum Rücktritt führte, erzeugte im Nachgang viel Kopfschütteln über den Umgang mit der Parteivorsitzenden, so Hermann Krupp. „Wie kommt man als Mensch damit klar?“ Nahles ergänzt, es sei „alles auf offener Bühne“ geschehen. Sie sei in ihrer politischen Karriere nie einer Konfrontation aus dem Weg gegangen, habe „immer mit offenem Visier gekämpft“. Aber so „ganz durch mit der Sache“ ist sie noch nicht. Sie erlebe Hochs und Tiefs. „Aber ich schaue nach vorne.“ Immerhin muss sie auch eine neue Arbeit finden. Sie ärgert sich über Medienberichte, sie würde nun eine großzügige Rente kassieren. Ihre Rentenansprüche starten ab 2033, sagt die 49-Jährige. Bis sie einen neuen Job hat, hilft ein Jahr lang das Übergangsgeld des Bundestags. „Aber es gab nicht nur Heckenschützen in dieser Zeit“, weiß Hermann Krupp, „auch Unterstützer, auch wenn das eher untergegangen ist.“ Sie nennt namentlich Heiko Maas und Olaf Scholz, die ihr auch in der mittlerweile wohl schon legendär zu nennenden Fraktionssitzung und auch im Nachhinein beistanden. Sie nennt Thorsten Schäfer-Gümbel und Malu Dreyer, die sie auch in der Eifel besuchten. Mit diesen Genossen pflegt sie auch weiterhin einen guten Kontakt. „Ich interessiere mich natürlich auch für die Nachfolge.“ Und sie hat eine Übergabe des Amts durchgeführt, „weil ich da Freunde habe, denen ich Gutes will“. So könne sie „besser damit umgehen, ohne Groll“. Dazu müsse sie jetzt aber einen „Cut“ machen.

„Eine gute Partei, die gerade eine Krise durchmacht“

Nein, Andrea Nahles will keine schmutzige Wäsche waschen. Das machte sie vor Beginn des Gesprächs deutlich. „Die SPD“, sagt sie, „ist eine gute Partei, die gerade eine Krise durchmacht.“ Sie sieht einen massiven Umbruch bei der Wahrnehmung der Volksparteien nicht nur in Deutschland. Auch die CDU trifft es; die SPD ist ihr dabei nur etwas voraus, ist sie sicher. „Wie ist Ihre Tochter damit umgegangen?“ Erst war sie traurig, erzählt sie, „weil ich auch traurig war“. Aber jetzt freue sie sich, weil die Mutter endlich mal öfter zu Hause ist. „Aber ganz so idyllisch wird es nicht bleiben, wenn ich eine neue Aufgabe habe.“ Andrea Nahles freut sich auch über große Unterstützung in ihrem Heimatort. „Das gibt mir Kraft.“

Ihre „Kante“ kam nicht immer gut an

„Würden Sie heute so manches anders machen?“, fragt Corinna Krupp weiter. „Das kann hoffentlich jeder von sich sagen,“ so die Antwort „sonst ist man nicht erwachsen geworden.“ Ob sie Beispiele nennen könne, hakt Corinna Krupp nach. Andreas Nahles sagt nur so viel: „Politische Fehler werden mich mein ganzes Leben beschäftigen.“ Sie müsse einen Umgang damit finden. Als Politikerin war sie bekannt für markige Sprüche, sagt Hermann Krupp. Und dafür, ihre Meinung zu sagen, die nicht überall gut ankam. „Mir laufen Zitate hinterher, die schon 20 Jahre alt sind“, antwortet sie. Der Fragesteller will es eher positiv sehen – immerhin bewies sie sich als Politikerin, die Kante zeigt. „Dachte ich auch“, sagt sie. Sie sieht sich als „absolut bodenständig“, so wie sie übrigens die meisten rheinland-pfälzischen Politiker sieht. Aber: Sie habe gelernt, das sind Eigenschaften, die in Wahrheit nicht gut funktionieren. Und manchmal habe sie sich gefragt, ob das, was an ihr kritisiert wurde, bei einem Mann vielleicht als „Qualitäten“ durchgegangen wäre. „Ich habe meine Erfahrungen gemacht.“ Müsste man nicht mehr Kante zeigen? „Nein“, antwortet Andrea Nahles. Wir leben in einer Zeit der political correctness. „Das kollidiert mit Kante.“ Vor zehn Jahren hätte sie die Frage wahrscheinlich anders beantwortet, mutmaßt Hermann Krupp. „Ja, aber die Politik verändert sich gerade extrem.“ Gab es für sie denn auch Vorbilder? Sicher, sie nennt ohne überlegen zu müssen Hans-Dieter Gassen und Gernot Mittler. Mit ihr waren die beiden nicht immer einer Meinung, aber sie sahen ihr Potential und förderten sie. „Das sind die Leute, die einen prägen.“

Corinna Krupp interessiert das Thema Gleichberechtigung. Andrea Nahles war als Politikerin ganz oben in ihrer Partei, zudem ist sie gläubige Katholikin. „Wie würden Sie die Rolle der Frau in den beiden Institutionen einschätzen?“ Gerade in der Politik habe sich in den letzten 30 Jahren viel verändert. Bei der SPD würden immerhin 42 Prozent der Mandate von Frauen besetzt. Dennoch sei die „informelle Macht sehr männlich“. Insgesamt sieht sie aber eine „positive Entwicklung“. In der Kirche tut sich bei uns einiges, aber es ist eben eine „Weltkirche“, sagt sie. Man muss Geduld haben und Vertrauen, dass sich etwas ändert. Hat sie einen Tipp für junge Frauen? Ja: „Nicht alles auf die Goldwaage legen!“ Und: „Haltet mehr zusammen!“

Dank an die Menschen im Wahlkreis

„Ihr Wahlkreis möchte wissen, was Sie vorhaben“, weiß Hermann Krupp. Die klare Antwort: „Ich weiß es nicht!“ Viele Politiker machten diesen Schritt nicht, weil man nicht wisse, was man dann mache. Sie sei in Gesprächen, sagt sie. Bleibt sie beruflich in der Eifel? „Wohl eher nicht.“ Die in ihrer Heimat so behaftete Andrea Nahles bedankt sich abschließend bei all den Menschen, die sie über die Jahre wählten. Wenn sie durch ihren Wahlkreis fahre, sehe sie, woran sie über die Jahre mitgearbeitet habe. Das bestärkt sie in der Gewissheit, dass man in der Politik doch etwas erreichen kann für die Menschen – dafür wird man immerhin gewählt.

Text/Fotos: pape