Schluss mit lustig - aber wann?
Zwischen Flirt und sexueller Belästigung - Was meinen Sie dazu, liebe Leserinnen und Leser?
Berlin. Mutig oder eiskalt, reißerisch oder wahrheitsgetreu, fair oder perfide - es sei mal dahingestellt, was dran ist an den Vorwürfen gegenüber Rainer Brüderle (FDP). Ob er nach einem langen Arbeitstag im Januar spätabends in einer Hotelbar von der Stern-Journalistin Laura Himmelreich provoziert und in eine wohl inszenierte Falle gelockt wurde oder ob die Sexismus-Unterstellungen der 28-Jährigen wahr sind und der 67-jährige Vorsitzende der FDP-Bundestagsfraktion sie sexuell belästigt hat, wissen nur die beiden.
Ein Jahr später sollte dieser Abend Rainer Brüderle einholen: Der „Stern“ veröffentlicht ein Porträt über ihn, in dem die Autorin Laura Himmelreich auch die anzügliche Situation mit Brüderle an der Hotelbar erwähnt - und damit eine heftig geführte Grundsatz-Debatte zu dem Sexismus auslöst, die weit über die deutschen Grenzen bis in die
USA schwappt.
Klarer Machtmissbrauch
Die Kernfragen dieses brisanten Themas sind vor allem: Wo fängt Sexismus an? Und was ist Sexismus überhaupt? Wer ist Täter? Und wer ist Opfer? Nötigt ein 67-Jähriger eine 40 Jahre jüngere Frau, wenn er ihr - weinselig?! - sagt, sie könne „ein Dirndl ausfüllen“ und er würde ihr gerne seine „Tanzkarte geben“? Oder kitzelt eine junge Frau diese „Manneskraft“ geradezu heraus, wenn sie einen älteren Mann danach fragt, ob er „für seinen Job nicht zu alt“ sei? Sind kollegiales Schulterklopfen, ein Lächeln an der Supermarkt-Kasse oder eine aufgehaltene Tür am Bahnhof sexistisch? Wer bestimmt, was ein angenehmer Flirt ist oder ein sexistischer Annäherungsversuch? Wo sind die Grenzen zwischen Erlaubtem und dem Übergriff? Und wer zieht sie? Der, der sich bedroht und genötigt fühlt? Oder macht man sich vielmehr selbst zum Opfer, indem man sich nicht ausreichend zur Wehr setzt und das Gegenüber in seine Schranken weist? Und geht Sexismus immer von Männern aus oder können auch Frauen sexuellen Druck ausüben? Und wie präsent ist Sexismus im deutschen Alltag überhaupt?
Dagmar Rosenfeld, die Ehefrau des nordrhein-westfälischen FDP-Chefs Christian Lindner und selber Journalistin, schrieb in einer Kolumne in der „Rheinischen Post“ dazu einen Definitions-Versuch: „Sexismus beginnt dort, wo Macht missbraucht wird: Wenn berufliche Positionen, Abhängigkeitsverhältnisse oder körperliche Stärke genutzt werden, um einem anderen Menschen gegen seinen Willen nahezukommen. Hier ist ein Aufschrei angebracht. Aber auch nur hier.“
Geschmackssache?!
Erlaubt also ist, was gefällt. Und das beiden. Und obwohl es so einfach scheint, ist das Thema in aller Munde, in allen Zeitungen und in allen TV- und Radiosendern gegenwärtig. Einer Forsa-Umfrage zufolge sehen 60 Prozent der Deutschen in der Bemerkung „Mit Ihrer Oberweite können Sie ja alles tragen“, eine Belästigung der Frau. Ein Drittel der Befragten aber hält die Äußerung für völlig in Ordnung und unproblematisch. Schließlich könnte dahinter ja auch ein aufrichtiges Kompliment stecken, ganz ohne irgendwelche Hintergedanken. Denn so manche Frau wäre froh, sie hätte ausreichend Oberweite, um „alles tragen“ zu können. Ist Sexismus also eine individuelle Geschmackssache und damit zwischen Empfänger und Absender immer wieder neu zu definieren? Es ist auf jeden Fall - zumindest weitgehend - eine Sache zwischen Mann und Frau, der Bildung und auch der Generation: 65 Prozent der Männer, aber nur 56 Prozent der Frauen werteten den Dirndl-Spruch als Belästigung, je niedriger der Bildungsabschluss und je älter die Befragten, um so seltener empfinden sie die Aussage als Belästigung. Ganz generell urteilten elf Prozent der Forsa-Befragten, dass sexuell anzügliche Bemerkungen und Witze gegenüber Frauen im Alltag sehr häufig vorkämen, 36 Prozent empfinden dies „häufig“, wohingegen fast 50 Prozent widersprachen und derartige Belästigungen als „eher selten“ einstuften.
Was meinen Sie dazu?
Die aktuelle Sexismus-Debatte hat gerade erst begonnen und sie ist auch noch recht chaotisch und zuweilen holperig. In Talkshows, auf Blogeinträgen und in der Kantine werden die Männer von Frauen unter Generalverdacht gestellt, werfen Frauen anderen Frauen vor, sich in die Opferrolle fallen zu lassen, und fordern sie im Kollektiv auf, sich im Fall des Falles gefälligst zu wehren, und es entschuldigen sich Männer kleinlaut und demütig dafür, dass sie gerne gepflegte Hände, lange Haare und runde Pos an Frauen sehen. Vulgäres Zeug zu reden, unerlaubt zu grapschen und seine Position auszunutzen, um zu bekommen, was man will, auch wenn der andere es nicht geben möchte, ist ein Mangel an Kinderstube und Manieren, aber kein Männer- oder Frauenproblem.
Oder doch? Ist der respektvolle Umgang miteinander wirklich in die Schieflage geraten, weil sexuelle An- und Übergriffe unseren Alltag bestimmen? Ist ein Karnevalsküsschen wirklich so unschuldig, wie es daherkommt? Wie denken Sie darüber, liebe Leserinnen und Leser? Wie weit darf aus Ihrer Sicht das Spiel mit dem Feuer gehen?
Haben Sie sich selber schon einmal sexuellem Druck ausgeliefert gefühlt? Und wie sollte im Fall des Falles damit umgegangen werden? Erstmal auf die Finger hauen oder direkt eskalieren? Wir freuen uns auf Ihre Ansicht dazu. Schreiben Sie einfach an: blick-aktuell@kruppverlag.de und teilen Sie uns auch kurz mit, ob wir Ihre Meinung veröffentlichen dürfen.
EMB
