Marc Ulrich und Jörg Schäfer im BLICK

„Katastrophenschutz muss in Bundeshand“

05.11.2021 - 15:22

Sinzig. Für Marc Ulrich, Initiator des Helfer-Shuttles für das Ahrtal, und Jörg Schäfer, Einzelhändler aus Bad Neuenahr, sind zwei Dinge nach der Flut weiterhin unglaublich: Die Zerstörung durch das Hochwasser und die unfassbare Welle der Hilfsbereitschaft. Letztere erlangte durch das Schlagwort „SolidAHRität“ deutschlandweite Bekanntheit. Ulrich und Schäfer sind sich sicher: Ohne die vielen Helfer wäre man beim Aufräumen noch lange nicht so weit, wie es jetzt der Fall ist. Bei ihrem Besuch im Krupp Medienzentrum stellten sich die beiden den Fragen von Susanne Tack, Junior-Chefin und Prokuristin des Krupp Verlages. Auf der Themenliste standen neben der außergewöhnlichen Hilfsbereitschaft auch der Ausblick für das Ahrtal: Wie sind die Chancen für die Region? Was wurde bereits gemacht und was muss noch erledigt werden? Und: Wie kann der Katastrophenschutz der Zukunft aussehen.

Marc Ulrich ist in ganz Deutschland bekannt worden. Er gründete das Helfer-Shuttle und täglich pendeln aus dem Hauptquartier in Gelsdorf tausende Menschen ins Tal, die bei den Aufräumarbeiten anpacken wollen. Dabei fing alles ganz klein an, wie Ulrich berichtet. Am Sonntag nach der Flut fuhr er in Eigenregie etwa 300 Helfer ins Tal. Möglich war diese erste Form eines koordinierten Hilfseinsatzes nur, weil Ulrich persönlich vergleichsweise wenig betroffen ist. Sein Wohnhaus hat keinen Schaden genommen und ein Firmensitz seiner Marketingagentur nur wenig. Nach einem Hilfseinsatz bei flutbetroffenen Freunden, war für ihn klar, dass er sein Netzwerk als Unternehmer dafür einsetzen werden, die ankommenden Helfer besser zu koordinieren. Das Resultat der Idee war das Helfer-Shuttle, das mittlerweile über 90.000 Menschen zu insgesamt 11.000 Hilfseinsätzen chauffierte. Das gelingt ganz professionell: Ulrich und sein Team benutzen eine digitale Karte, um zu sehen, welche Haushalte und Firmen bereits gesäubert wurden. Mittlerweile sei die „Schlammphase“ vorbei, wie Ulrich Susanne Tack erklärt. „Dass jetzt freiwillige Helfer darüber hinaus Estrich stemmen und Putz abklopfen, hätte ich am Anfang niemals gedacht“, blickt Marc Ulrich zurück. Und an ein Ende des Helfer-Shuttles ist nicht zu denken. „Über den Winter wollen wir das Angebot aufrecht erhalten“, sagt er. Die Kapazitäten dazu habe man, wie er sagt. Mit dem Baustoffzelt Kaiser gibt es in Gelsdorf einen regelrechten „Helferbaumarkt“, auch „Azubi“ Wilhelm Hartmann verstärkt die Helfertruppe in der Grafschaft.

Angepackt hat auch Jörg Schäfer. Der Einzelhändler betreibt einen REWE-Markt in Bad Neuenahr. Die Flut hat hier einen Flurschaden hinterlassen. So ging es für ihn erst ans Helfen, als der eigene Markt halbwegs wiederhergestellt war. Das gelang in kurzer Zeit: Schon am ersten Wochenende nach der Flut war der Supermarkt von Schlamm befreit. Der Boden musste teilweise raus, und viele der elektrischen Geräte sind im wahrsten Sinne abgesoffen. Mittlerweile hat das Geschäfts wieder die Pforten für die Kunden geöffnet. Die Wiedereröffnung gelang schnell, das Sortiment ist jedoch etwas reduziert. Bevor der Markt wieder starten konnte, packte auch Jörg Schäfer an. Mit Unterstützung von Kollegen aus der REWE-Gruppe wurden Lebensmittel verteilt, gerade dort wo andere Hilfslieferungen kaum hinkamen. So zum Beispiel in die schwer zerstörte Siedlung Auf den Steinen in Bad Neuenahr oder generell der südlichen Ahrseite der Kreisstadt. Verteilt wurden auch Gummistiefel, Hygieneartikel und alles, was benötigt wurde. Schließlich haben Schäfer und sein Team ein eigenes Zelt zur Ausgabe von Hilfsgütern auf dem Parkplatz des Supermarktes aufgestellt.


Ulrich: „Funktionierende Heizung ist das Wichtigste“


Viel sei schon geschehen, weiß Susanne Tack. „Was steht als nächstes auf der Liste der Dinge, die noch dringend erledigt werden müssen?“, möchte die Junior-Chefin wissen. Schäfer und Ulrich sind sich sicher: Ein zentrales Element ist das Gas. „Gerade jetzt im Herbst und im Winter wird eine funktionierende Heizung das absolut Wichtigste für die Menschen im Ahrtal sein,“ so Marc Ulrich. Es sei wichtig, dass immer mehr Häuser an das Netz angeschlossen werden und das schnell. Jörg Schäfer ist noch ein weiteres Thema wichtig. Es herrsche Handwerkermangel. Auch an Baumaterialien sei nicht immer zu kommen und das sorgt ebenfalls für Frust. Immerhin werde der kurzfristige Bedarf an Material und Baustoff in Gelsdorf gedeckt, wie Ulrich hinzufügt.

Nach der Flut war die Kritik am Krisenstab enorm. Susanne Tack fragt: „Was hätte man aus heutiger Sicht am 14. Juli besser machen sollen?“. Marc Ulrich winkt ab: „Zunächst muss man dazu sagen: Im Nachhinein weiß es sowieso jeder besser.“ Und: „Was will man jemanden in einer Situation vorwerfen, die es noch niemals gab?“ Wichtig sei, dass sich an der jetzigen Situation etwas ändere. Es könne schließlich nicht sein, dass „nachmittags in Altenahr Autos über die Straßen schwimmen und nachts in Sinzig noch zwölf Menschen sterben müssen.“ Außerdem hätten die Menschen heute Angst, Entscheidungen zu treffen. „Hätte man evakuiert und die Katastrophe wäre nicht passiert, dann wäre bei der nächsten Warnung die Glaubhaftigkeit nicht mehr gegeben“, sagt er. Für Ulrich stehe jedoch fest, dass der Katastrophenschutz endlich eine Aufgabe des Bundes werden muss. Für die Bewältigung von Naturkatastrophen sei die Bundeswehr die ideale Wahl, findet er. Dass sich etwas tun muss, ist auch die Überzeugung von Jörg Schäfer. Er schlägt vor, die Möglichkeit eines Stausees an der Oberahr zu prüfen. Gerade dort sei effektiver Hochwasserschutz wichtig, denn die Flut entstand nicht nur in der Ahr selbst, sondern auch in den Nebenbächen in der Ahreifel.


Helfer aus Ghana, Mexiko und den USA


Wie bereits erwähnt, erlebt das Ahrtal eine unfassbare Welle der Hilfsbereitschaft, die vorher kaum für möglich gehalten wurde. „Wie kommt das Phänomens des Helfens in dieser massiven Ausprägung zustande?“, möchte Tack wissen. Marc Ulrich vermutet, dass es sich bei der Ahrtal-Flut um ein Ereignis handele, dass Deutschland im Kern getroffen hat - auch emotional. „Gibt es Katastrophen in Haiti, oder auch in relativer Nähe wie in Italien, ist das weit weg für uns“, so Ulrich. Die Flut sei da greifbarer gewesen. Zu dem liegt das Ahrtal in der Nähe von Ballungsgebieten. Viele die Helfen wollten, konnten gut anreisen. Einen weiteren Aspekt bringt Jörg Schäfer ins Spiel. „Der Kreis Ahrweiler hatte jahrelang mit der Abwanderung junger Menschen zu kämpfen“, sagt er. Jüngere Menschen haben sich in ganz Deutschland verteilt. „Jeder kennt jemanden, der aus dem Ahrtal stammt,“ so Schäfer. Die Aktivierung von Helfern sei somit für Diejenigen mit Wurzeln im Tal einfach gewesen. Ulrich definiert die Hilfsbereitschaft nicht nur als nationales Phänomen. Er habe Menschen kennengelernt, die aus den USA, Mexiko oder Ghana kamen um im Ahrtal mit anzupacken. „Das ist schier unfassbar.“ Auch die Spendenbereitschaft sei gigantisch. Deshalb habe man auch das Spende-Shuttle gegründet um die finanziellen Hilfen in geordnete Bahnen zu lenken.

Ulrich bemerkt, dass der Einsatz im Ahrtal mit den Menschen „etwas gemacht“ habe. „Ich habe gestandene Männer weinen sehen“, so der Unternehmer. Oft werde die Lage vor Ort, die nur aus Bildern in den Medien bekannt sei, unterschätzt.

Nicht nur die Helfer kamen in Massen. Es wurde auch massiv Sachspenden abgeliefert. Wie zum Beispiel Möbel. „Sind diese Spenden sinnvoll?“, möchte Tack wissen. Für Möbel und andere Einrichtungsgegenstände kommen „so langsam die Zeit“ vermutet Ulrich. Am Anfang, also der Zeit als die Häuser nass und voller Schlamm waren, war das kein Thema. Es herrsche in einem zerstörten Wohngebäude schlicht kein Bedarf an Möbeln. Jörg Schäfer weist darauf hin, dass es auch ganz natürlich sei, dass die flutbetroffenen Menschen sich ihr neues Zuhause, so einrichten möchten, wie sie es gerne hätten. „Nur wenn ein Eichenschrank gespendet wurde, bedeutet das nicht, dass sich den jeder in sein Haus stellt,“ so Schäfer. Auch seinen Mitarbeitern, die betroffen sind, hat er mit vielen Sachspenden wie Elektrogeräten geholfen. Dabei hat er darauf geachtet, dass es sich um ordentliche Produkte handele. „Von einer Waschmaschine, die nach einem Jahr wieder kaputt ist, hat keiner was“, so der Einzelhändler.


Spagat aus Nostalgie und Jugendlichkeit


Susanne Tack fragt nach einem Gefühlsbild aus dem Ahrtal. „Wie ist die allgemeine Stimmung?“ Für Jörg Schäfer steht fest, dass der Optimismus wachse, sobald die Normalität mehr und mehr zurückkehre. „Jeder noch so kleine Laden, der wieder aufmacht, ist ein Teil des gewohnten Lebensumfeldes der Menschen,“ sagt er. Und das sorge für Hoffnung, erklärt Schäfer. Dass die Stimmung gut sei, findet auch Marc Ulrich. Er gab jedoch zu Bedenken, dass Stimmungen individuell sehr unterschiedlich sein können. „Wer kein Gas hat und nicht heizen kann, wird nicht allzu positiv in die Zukunft schauen“, ist er sich sicher. Dass die Menschen nun massenhaft das Tal verlassen und fortziehen, sei kein Thema mehr. Im Gegenteil: Manche der Helfer von auswärts möchten sogar ins Ahrtal ziehen.

Zum Schluss wirft Tack einen Blick in die Zukunft. „Wie kann das Ahrtal in einigen Jahren aussehen?“ Schäfer und Ulrich stellen fest, dass eine wichtige Sache erreicht wurde: Aufmerksamkeit. „Das Ahrtal war noch niemals in den Köpfen präsenter als jetzt“. Jetzt gelte es, die Flut als Chance zu begreifen – aber auch als Herausforderung. Ulrich zieht den Brückenbau als Beispiel heran. Für die neuen, festen Brücken die zukünftig die THW-Provisorien ersetzen sollen, wäre es eine tolle Sache, richtige Experten zu versammeln. „Denkbar wäre die Auslobung eines Architekturpreises beim Brückenbau“, sagt Ulrich. Das wäre ein erster Schritt für die Aufwertung des Ahrtals. Und jener Expertenrat sei auch bei jedem Thema eine Option, sei es bei der Infrastruktur oder dem Tourismus. Denn eines stehe fest: Das Ahrtal der Zukunft soll ansprechender werden. „Die Herausforderung ist die, den nostalgischen Flair der Ahr zu erhalten und gleichzeitig auch junge Menschen anzusprechen.“ Für diesen „Spagat“ brauche es jetzt einen konkreten Fahrplan und die besten Leute, die man bekommen kann. „Das Ahrtal benötigt für den Wiederaufbau richtige Koryphäen auf ihren jeweiligen Gebieten – und zwar in allen!“, so Marc Ulrich abschließend.

ROB

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09.11.2021 11:44 Uhr
Klaus Preis

Katastrophenschutz wird nie eine Aufgabe des Bundes werden. Dazu müsste das Grundgesetz geändert werden und da spielen die Länder nicht mitbb



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