Sankt Martin beim Lichterfest
von Gregor Schürer
Der Laternenumzug war beendet und die Kinder hatten sich mit ihren Eltern noch in der KITA Regenbogen versammelt, um das Lichterfest bei heißem Kakao oder Tee und selbst gebackenen Rosinenbrötchen ausklingen zu lassen. Die Tür war natürlich abgeschlossen, damit niemand heimlich ausbüxte. Deshalb musste Martin klopfen.
Sein Pferd hatte er ein Stück weit die Straße herunter angebunden, er wollte kein Aufsehen erregen. An einem Laternenpfahl, wo noch ein Plakat der Tierschutzpartei von der letzten Wahl hing, hatte er seinen treuen, alten Wallach festgebunden und ihm den Futtersack umgehängt.
Auf sein Pochen hin erschien eine Frau an der Tür, öffnete einen Spalt und fragte: „Ja, bitte?“ Er lächelte sie an und antwortete: „Ich bin Sankt Martin und wollte die Kinder mit meinem Besuch überraschen. Lassen Sie mich herein?“ „Ich muss erst fragen, bitte warten Sie einen Moment.“ Sie schloss die Tür wieder und ging nach drinnen.
Im großen Gemeinschaftsraum suchte die KITA-Leiterin die Mitglieder des Elternausschusses. Sie bat sie in ihr Büro zu einer kurzfristig anberaumten Sondersitzung. „Draußen steht Sankt Martin und will die Kinder besuchen.“ „Woher wissen Sie, dass er es tatsächlich ist?“ „Na, er trägt einen roten Umhang, hat einen Helm auf dem Kopf und ein Schwert bei sich.“
Es gab es eine hitzige Diskussion, die mit dem Beschluss endete, dass der heilige Mann eingelassen werde, weil man ja eine weltoffene Einrichtung ohne Vorurteile sei. Allerdings müsse er sein Schwert an der Garderobe abgeben, da Waffen hier nicht erlaubt seien.
Gemeinsam gingen sie zur Türe, wo Martin geduldig wartete.
Er wurde eingelassen, willkommen geheißen und gebeten, das Schwert abzulegen, was er gerne tat.
Dann brachte man ihn in die KITA-Turnhalle, wo das Lichterfest in vollem Gange war. Beim Betreten der lärmenden Halle rief die KITA-Leiterin: „Wir haben einen Überraschungsgast!“ Alle blickten erstaunt zu ihm hin und es wurde plötzlich ganz still im Raum. Bis ein Kind fragte: „Wer bist du?“
„Ich bin der Sankt Martin“.
Sofort löste sich eine Frau aus der Gruppe, stürmte auf ihn zu und sagte barsch: „DER St. Martin, das hätte ich mir ja denken können. Die Zeiten des Patriarchats sind vorbei, lieber Martin. Die Vorherrschaft der Männer ist vorüber, endgültig!“
„Als ich zum Militärdienst verpflichtet wurde, gab es dort eben nur Männer“, antwortete Martin. „Heute ist das natürlich anders, auch Frauen tun Dienst an der Waffe. Du kannst mich aber gerne auch DIE Sankt Martin nennen.“
Nun kam eine weitere Person auf ihn zu, Martin wusste gar nicht, ob es eine Frau oder ein Mann war. „Mein Kind soll später selbstbestimmt entscheiden, ob es eine DIE oder ein DER sein will.“
„Ja, natürlich, ich habe nichts dagegen. Du kannst mich auch gerne DAS Sankt Martin nennen“, erwiderte Martin.
„Wir wollten kein Sankt-Martin-Fest, um die Menschen mit Migrationshintergrund und Andersgläubigen nicht auszuschließen. Schließlich sind wir kein kirchlicher Kindergarten“, rief jemand aus dem Pulk, den Martin nicht erkennen konnte. „Deshalb nennen wir es Lichterfest.“
„Ich war ja für Sonne, Mond & Sterne-Fest“, warf ein Mann ein, der in der Mitte stand.
„Es ist doch ganz egal, wie es heißt“, antwortete Martin. „Hauptsache, es wird der Anlass gefeiert, um den es heute geht: Dass man teilen soll, so wie ich meinen Mantel geteilt habe. Und dass man seinem Nächsten helfen soll, ihm die Hand reichen und ihn lieben. Das ist die wichtige Botschaft des heutigen Tages.“
Dann wandte er sich an die Kinder: „Ich habe Namenstag und wollte euch fragen, ob ihr zur Feier des Tages ein Lied mit mir singt. Was meint ihr?“
Ein vielstimmiges „JAAAAAAAAAH!“ erschallte.
„Das hier kennt ihr bestimmt alle.“
Sankt Martin sang mit seiner kräftigen, dunklen Stimme:
„Ich geh‘ mit meiner Laterne und meine Laterne mit mir.
Da oben leuchten die Sterne, hier unten leuchten wir.
Ich trag mein Licht, ich fürcht mich nicht.
Rabimmel, Rabammel, Rabumm.
Sankt Martin hier, wir leuchten dir.
Rabimmel, Rabammel, Rabumm.“
Und während nach und nach viele mitsangen, funkelten die Augen der Kinder wie das metallene Schwert, das sich am Garderobenhaken im Licht der brennenden Kerzen drehte, die im Flur aufgestellt waren.
SCHÜ
