Allgemeine Berichte | 27.03.2014

Koblenzer Literaturtage „ganzOhr“

Ein Mord und die Kraft der Musik

Musikalische Lesung nach dem Roman „Das Wüten der ganzen Welt“ von Maarten ’t Hart aufgeführt

Ruth Duchstein (Mitte), künstlerische Leiterin der Literaturtage, hieß Hartmut Volle zu seiner Lesung im Görreshaus willkommen. BSB

Koblenz. Nach 2010 war das Görreshaus jetzt zum zweiten Mal Spielort einer musikalischen Lesung, die Teil des eigenen Programms von Hartmut Volle ist, der Fernsehzuschauern als Chef der Spurensicherung aus dem „Saarland-Tatort“ bekannt ist, bei der Lesung aber die Rolle des Sprechers übernimmt. Eine perfekte Besetzung für den literarisch anspruchsvollen Roman „Das Wüten der ganzen Welt“ von Maarten ’t Hart, der dem Genre „Krimi“ zugeordnet wird, obwohl der Autor die Schwerpunkte eher unkonventionell ausrichtet. Volle bringt die mehr als vierhundert Romanseiten in einer gut gelungenen, stimmigen Zusammenfassung als eine Art Hörspiel auf die Bühne. Die Dialoge des in Ich-Form geschriebenen Romans spricht er in stimmlich feinen Variationen. Notwendige Zeitsprünge, die er durch

Auslassen von Romanpassagen einbaut, sind so geschickt angesetzt, dass fehlender Text kaum vermisst wird, die Zusammenhänge bleiben verständlich.

Die Flucht in die Musik

Zeitlich perfekt abgestimmt auf die Handlung fließen live gespielt Werke von Schubert, Bach, Fauré und Reger in die Lesung ein. Held der Geschichte ist der Sohn eines Lumpenhändlers, der (spätere) Komponist Alexander Goudveyl, der als Zwölfjähriger im Dezember 1956 in seinem Wohnort, einer südholländischen Kleinstadt, den Mord an dem Ortspolizisten, dem „juut“ Vroombout, hautnah miterlebt.

Den Täter kann er aber nicht erkennen, denn er sitzt am Klavier und spielt, spielt selbst nach dem tödlichen Schuss ruhig weiter. Er flüchtet sich in das Klavierspiel. Genauso, wie er damit auch sonst aus der ihn umgebenden Welt der Verbohrtheit in die Welt der Musik der großen Komponisten flüchtet. In Alexanders Musik eintauchen konnten die Zuhörer im voll besetzten Görressaal mit den wunderbaren Darbietungen von Irina Marinas (Sopran), Maria Ollikainen (Klavier) und Eleonore Ciupka (Querflöte) - immer dann, wenn das Licht am Lesepult erlosch.

Je mehr Volle las, desto klarer wurde der Blick in das Leben und die Welt des Außenseiters Alexander Goudveyl und sein streng religiöses Elternhaus, in dem Sparsamkeit ein hohes Gut ist. Der Blüthner-Flügel in der Lagerhalle des Geschäfts seiner Eltern wird zu seinem Zufluchtsort. Mit der Musik, die er darauf spielt, entkommt er dem pädophil veranlagten Polizisten Vroombout, den ihn mobbenden Gassenjungen, der Kleinbürgerlichkeit und sogar Gott, dem er unterstellt, er „suche ihn offenbar zu töten“. Seine Bibel ist nicht die seiner Eltern, in der es reichlich Geschichten von Verrat und Mord gibt, sondern das riesige rote Buch, das ihn das Klavierspiel lehrt.

Eine komplexe Entwicklung

Was er fühlt, wenn er spielt, konnte das Publikum erahnen, beispielsweise mit Schuberts „Trockne Blumen“ für Flöte und Klavier, das die beiden Musikerinnen vor dem stimmungsvoll in rotes Licht getauchten Hintergrund der Bühne zum Wegträumen schön spielten.

Über seine Liebe zur Musik führt Alexander der Weg zu seinen eigenen Wurzeln in das Jahr 1944 und zu all den Menschen, die in irgendeiner Weise mit Vroombouts Vergangenheit oder dem Mord an ihm zu tun haben. Der Handlungsfaden spannt sich wie ein Spinnennetz immer enger um eine Lösung, die am Schluss nur eine halbe ist. Der Autor gibt den Recherchen Alexanders rund um den Mord gerade so viel Gewicht, dass die Bedeutung der Musik sie immer wieder aufwiegen kann. So ist auch der Zuhörer der Lesung hin- und hergerissen zwischen dem Zauber der Musik und dem komplexen Romangeschehen um Alexander, seine menschliche und musikalische Entwicklung. Als Alexander schließlich nach Leiden geht, um dort Pharmazie zu studieren, empfindet er den Ortswechsel als Befreiung aus seiner Jugend und glaubt, damit auch den Mord an dem Polizisten Vroombout hinter sich gelassen zu haben. Doch ein Besuch seiner Eltern und deren halbherzige Beichte lassen alles wieder aufbrechen, denn der Polizist war maßgeblich beteiligt an den Juden-Razzien der „Moffen“. Wie viel mehr Schuld er auf sich geladen hatte, erfährt Alexander erst, als ihn die Liebe zur Musik zufällig auf den weltbekannten Dirigenten Aaron Oberstein stoßen lässt. Durch ihn findet er zudem eine neue Liebe, seine künftige Ehefrau Joanna, Obersteins Tochter, deren Sopran ihn zutiefst erschüttert. Vielleicht war es ein Lied wie „Au bord de l’eau“ von Gabriel Fauré, mit der im Görreshaus Irina Marinas das Publikum begeisterte.

Volle schlüpfte dazu kurz in Alexanders Leben, nahm die Sängerin in den Arm und sagte ihr ebendiese Worte. Zurück am Lesetisch bachte der Schauspieler zu Gehör, was Alexander eines Tages dann von seinem Schwiegervater erfährt. Wie ein Puzzleteil fügt es sich in die Erzählungen der Eltern ein. Nun begreift das Wüten dieses Mannes, das ihn zu seinem persönlichen Hauptverdächtigen für den Mord an Vroombout macht. Wer tatsächlich der Mörder war, lässt der Autor jedoch nur ahnen. Dafür erhält die Geschichte eine völlig überraschende, schockierende Wendung.

Als die Lesung endet, hinterlässt sie ein begeistertes und ergriffenes Publikum. Begeistert von der Musik, ergriffen von der schönen Sprache der Erzählung.

Ruth Duchstein (Mitte), künstlerische Leiterin der Literaturtage, hieß Hartmut Volle zu seiner Lesung im Görreshaus willkommen. Foto: BSB

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