Neuwieder Haushalt 2024 wieder mit einem Überschuss
Fraktionen unterschiedlicher Auffassung über Gewichtung der Investitionen
Neuwied. Mit einer zweieinhalbstündigen Erläuterung und Aussprache wurde der Haushaltsplan seinem Anspruch als Königsdebatte wieder einmal gerecht. Erträge in Höhe von rund 201 Mio. Euro stehen Aufwendungen in Höhe von 198 Mio. Euro gegenüber. Trotz einem für 2024 geplanten Jahresüberschuss in Höhe von 2,7 Mio. Euro – zwei Jahrzehnte musste der Stadtrat über einen negativen Haushalt beraten – ist der Etat nicht nach dem Geschmack aller Fraktionen. 28 Zustimmungen, von der AfD und der FDP sowie der Mehrheitsfraktion, bestehend aus CDU, Bündnis 90/Die Grünen und FWG, standen eine Enthaltung und vierzehn Neinstimmen entgegen.
Stein des Anstoßes ist die Mittelverwendung. 24,9 Mio. Euro für den Flächenankauf und Erschließung zur Ansiedlung von Gewerbe im Bereich Friedrichshof, gefolgt von 9,5 Mio. Euro für Schulen und Kitas stellen die größten Investitionen dar. Gar eine gesellschaftliche Diskussion forderte Dr. Jutta Etscheidt (Bürgerliste). Zur Erinnerung: Mit der massiven Grundsteuererhöhung von 410 auf 620 Prozent hatte die Mehrheitskoalition vor drei Jahren die Grundlage für die erhöhte Investitionstätigkeit gelegt.
Flächenversiegelung auf 62 Hektar
Die Heddesdorfer Ratsfrau stellt die Richtigkeit einer weiteren Industrialisierung in Frage. Diese Investitionen seien finanziell und ökologisch nicht vertretbar. Nur weil das Land einen auskömmlichen Finanzausgleich versagt, könne die Stadt nicht auf unzuverlässige Gewerbeeinnahmen setzen und die Heimat durch die große Flächenversiegelung (Hitzebildung, keine Grundwasserneubildung) zerstören.
Auf den vorgesehenen 62 Hektar, in etwa 40 Fußballfelder, Industriegebiet in Richtung Torney leben viele geschütze Tierarten. Außerdem wies Dr. Jutta Etscheidt darauf hin, dass Neuwied selbst die vorgeschriebenen Ausgleichsflächen nicht ausweisen könne.
SPD-Fraktionschef Sven Lefkowitz monierte ebenfalls das „klare Missverhältnis“ der Investitionen in den Friedrichshof zu allen anderen Maßnahmen. In Frage stellte er, ob das Geld beim Verkauf der Flächen wieder reinkommt und ob denn überhaupt die erhofften Arbeitsplätze entsünden, nämlich gut bezahlte Jobs. Sinnvoller wäre es, als echten Schwerpunkt, mehr Geld in die Kitas und Schulen zu investieren, die Warteschlange sei lang. Den Friedrichshof könne man langsamer angehen.
Eine deutliche Absage erteilte der SPD-Sprecher dem von der Mehrheitskoalition durchgesetzten qualifizierten Mietspiegel. Neuwied habe einen Mangel an bezahlbaren Wohnraum. Daran müsse gearbeitet werden. Denn der Markt allein werde es nicht regeln.
Das von Sven Lefkowitz aufgezeigte Missverhältnis wollte Dezernent Ralf Seemann nicht auf sich sitzen lassen. Er nannte eine ganze Reihe von Sanierungen und Neubauten, die sich aktuell in der Planung oder Umsetzung befinden. Die teils jahrelangen Verzögerungen seien weder der Verwaltung noch der Politik anzukreiden. Ebenfalls rief der Dezernent in Erinnerung, dass die Grundsteuererhöhung nicht nur Grundlage für mehr Investitionen war, sondern auch dafür gesorgt hat, dass Neuwied vom Land höherer Schlüsselzuweisungen erhält. Als „Luftschlösser“ bezeichnete er die Vorstellung, dass die GSG mehr Wohnraum schafft, aber keinesfalls die Mieten erhöhen dürfe.
Tobias Härtling (Die Linke) begrüßte den zweiten Haushalt mit Jahresüberschuss, sieht aber bislang nicht mehr als das Licht am Ende des Tunnels. Bei der Erschließung des Friedrichshof mahnte er die nachhaltige und ökologische Umsetzung an aber bedauerte, dass die Kommunen bei der Ansiedlungspolitik im Wettbewerb miteinander stehen. Tobias Härtling forderte vom Land einen verbesserten Finanzausgleich, höhere Steuern seien in Krisenzeiten der falsche Weg. „Weil die Grundlagen nicht stimmen und der finanzielle Gestaltungsspielraum fehlt, lehnen wir den Haushalt ab und enthalten uns“, resümierte der Linke.
CDU: Stärkung der Steuerkraft
In seiner Rede unterstrich Martin Hahn (CDU), den eingeschlagenen Weg konsequent weiterzugehen. Das Ziel sei die Stärkung der Steuerkraft und vor allem mehr Kaufkraft für die Stadt zu generieren. Schlussendlich gehe es darum, mehr Menschen für Neuwied zu gewinnen. Anders als die Opposition ist der Fraktionsvorsitzende der Ansicht, die richtigen Prioritäten zu setzen. 40 Mio. Euro sollen in den nächsten Jahren in die Infrastruktur, Schulen, Kitas und Sportstätten investiert werden, um Neuwied für Familien mit Kindern und für junge Menschen attraktiv und lebenswert zu machen. Zudem werde man gemeinsam mit privaten Investoren in den nächsten Jahren hunderte Wohnungen bereitstellen.
Vor dem Hintergrund der aktuellen Nachrichtenlage sprach er sich für Integration und gegen Remigration aus. Die AfD-Fraktion hatte der CDU-Chef zuvor harsch kritisiert, nachdem Sprecherin Ute Kutscher in ihrem Redebeitrag zwar die Zustimmung zum Haushalt erklärte, aber dringenden Handlungsbedarf hinsichtlich der besseren Erfüllung der Bedürfnisse von Bürgern angemahnt hatte. In der endenden Wahlperiode habe die AfD keine Ideen, Initiativen und Anträge eingebracht, so Martin Hahn.
FWG verteidigt Grundsteuererhöhung
Die FWG sieht Neuwied auf einem guten Weg. Sprecher Karl-Josef Heinrichs zählte eine Reihe von attraktivitätssteigernden Maßnahmen und baulichen Veränderungen, wie den Marktplatz, das Deichvorgelände und die Schlossstraße, auf. Der Irlicher Ratsherr verteidigte die Grundsteuererhöhung. Ohne diese hätte Neuwied für 2024 abermals einen Fehlbetrag in Millionenhöhe ausweisen müssen. Ebenfalls wäre man um ein Stück Handlungsfähigkeit beraubt.
Die gesamte Freiheit werde Neuwied aber erst erhalten, wenn alle Schulden getilgt sind. „Hier wird getrickst und nicht mit offenen Karten gespielt“, kommentierte Karl-Josef Heinrichs das Wachstumschancengesetz des Bundes. Um das Gesetz zu finanzieren, würden den Kommunen ein Teil der Einkommenssteuer vorenthalten. „Für Neuwied bedeutet das im nächsten Jahr 1,4 Mio. Euro weniger Einnahmen“, so der FWG-Sprecher.
Dennis Mohr (FDP) sprach von bedenklich wenig Geld (4,5 Mio. in 2024) für die Sanierung von Grundschulen. Angesichts des Gebäudezustands sei höchste Sorge angebracht. Ein schlechtes Gefühl bereitet dem Liberalen, dass 3,5 Mal so viel Geld wie für Kitas und Schulen in das geplante Industriegebiet gesteckt wird. Zufrieden zeigte sich Dennis Mohr mit dem Innenstadtausbau. Bezüglich Radwege tue sich mit vier Maßnahmen, nach keiner im Vorjahr, immerhin etwas. Unzufrieden ist die FDP mit dem Umgang ihrer Anträge. Dennis Mohr stellte in Frage, ob der Wille zur Umsetzung der Beschlüsse überhaupt bestünde.
Den Gegnern des geplanten Industriegebiets versicherte Regine Wilke (Bündnis 90/Die Grünen), dass der Schutz der natürlichen Ressourcen oberste Priorität habe und alle Maßnahmen im ökologischen Interesse der Gemeinschaft erfolgen. Man sei sich der einzigartigen Fauna und Flora bewusst. Die Grüne kündigte den konsequenten Ausbau von Kinderbetreuungseinrichtungen an. Zum einen gelte es die Bildungschancen des Nachwuchses zu verbessern und zum anderen den Eltern die Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu ermöglichen. „Frauen können mehr als Kirche, Küche und Kinder“, kündigte Regine Wilke eine Initiative an, die es Frauen zukünftig ermöglichen soll, sich für die Stadt zu engagieren und in den Gremien mitzuwirken.
FF
Nachtrag / Ergänzung:
62 Hektar entspricht 86 (!) und nicht 40 Fußballfeldern.
In Bezug auf die Größe der Stadt Neuwied erscheint es nicht unangemessen, eine solch umfangreiche/ausgedehnte
Gewerbe-/Industriefläche für ein einzelnes Projekt als Gigantomanie zu bezeichnen.
Die von Frau Dr. Jutta Etscheidt vorgetragenen Bedenken und Argumente in Bezug auf und gegen das Industrie- / Gewerbegebiet 'Friedrichshof' ( 62 Hektar ! ) sind plausibel und inhaltlich fundiert. Ihre Kritik ist also berechtigt und trifft zu. Die Versorgung der Bevölkerung mit zügig erreichbaren/Aufwand reduzierenden Arbeitsplätzen - soweit objektiv ein örtlicher Bedarf an solchen Arbeitsplätzen besteht - ist natürlich ein sehr wichtiges Argument. Aber eine solche Versorgung darf nicht um jeden Preis erreicht werden wollen. Frau Dr.Etscheidt hat andere gesamtgesellschaftlich hoch wichtige Belange angesprochen. Diese gilt es sozial und ökologisch voll zu berücksichtigen. Die Einlassung von Frau Regine Wilke (Bündnis 90/Die Grünen), dass der Schutz der natürlichen Ressourcen "oberste Priorität" habe..., ist durchschaubare Sprachkosmetik, Beschwichtigungsversuch und die Behauptung, die ökologische 'Quadratur des Kreises' - also eine reale Unmöglichkeit - bewerkstelligen zu können.