Eine Weihnachtsgeschichte

Die geheimnisvolle Dose

Die geheimnisvolle Dose

Foto: pixabay.com

Ich war fünf Jahre alt und zu Besuch bei meiner Oma. Meine Mutter hatte meine beiden älteren Geschwister und mich innerhalb kurzer Zeit bekommen, es war alles ein bißchen viel für sie. Deshalb verbrachte ich die Adventszeit bei der Mutter meiner Mama. Ich liebte meine Großmutter, sie war rund, roch gut, kochte lecker, gab mir Süßigkeiten und war immer bestens gelaunt. Ich schlief auch bei ihr im großen Bett, das war gemütlich. Auf ihrem Nachttisch stand eine Porzellandose mit Deckel. Weiß, der Griff des Deckels war vergoldet. Mich faszinierte diese Dose, was wohl drin sein mochte? Omas leckere Weihnachtsplätzchen vielleicht? Eines Abends, Oma hatte mich schon zu Bett gebracht, krabbelte ich auf ihre Seite rüber. Ich lauschte, ob jemand kam, alles war ruhig. Da hob ich vorsichtig, ganz vorsichtig den Deckel und lugte in die Dose. Sie war leer. Enttäuscht zog ich mich in meine Betthälfte zurück und während ich noch darüber nachdachte, was wohl mal drin gewesen sein mochte, schlief ich ein. In meinen Träumen verfolgte mich diese Frage weiter. Etwas musste sich doch darin befunden haben, wofür sollte die Dose sonst dort am Bett stehen. Vielleicht bewahrte Oma darin den Schlüssel zur Vorratskammer auf? Dort lagerte sie die Weihnachtskekse, von der Decke hingen Mettwürste. Oma hatte den Schlüssel tagsüber immer in ihrer Kittelschürze, bestimmt legte sie ihn abends in die Dose.

Mitten in der Nacht erwachte ich von einem Geräusch, Oma hatte sich schnarchend herumgedreht. Im Zimmer war es fast taghell, ein riesiger Vollmond schaute zum Fenster herein und tauchte den ganzen Raum in ein mildes, gelbes Licht. Ich schaute rüber zu Oma, sie lag jetzt wieder friedlich da, die Bettdecke hob und senkte sich mit ihrem Atem. Ich stand leise auf und schlich ums Bett auf die andere Seite, wie magisch angezogen von der Porzellandose, die im Mondlicht verheißungsvoll schimmerte. Ich zögerte einen Moment, doch die Versuchung war zu groß. Hastig hob ich den Deckel hoch und schaute hinein. Ich weiß nicht, ob es wegen des Anblicks war, der sich mir bot oder weil ich zu schwungvoll agiert hatte. Jedenfalls glitt mir der Deckel aus der Hand und zerschellte auf dem Steinboden. In der Dose lagen, meine Augen blieben wie hypnotisiert darauf stehen, Zähne, viele Zähne, ein ganzes Gebiss. „Das sind meine“, sagte Oma. Mein Blick löste sich von den Zähnen und wanderte herüber zu Omas runzligem, auch in diesem Moment gütigem Gesicht. „Warum sind die denn nicht in deinem Mund?“ fragte ich Dreikäsehoch. „Jetzt überleg mal“, antworte Oma, „ich bin schon so alt und habe die Zähne schon so viele Jahre. Jeden Tag, den der liebe Gott gibt, müssen die Zähne in meinem Mund Schwerstarbeit leisten, beißen, kauen, mahlen. So hart sind sie, dass man sogar Nüsse damit knacken kann. Und zum Reden brauchen wir sie auch, denn manche Buchstaben kann man ohne Zähne ganz schlecht aussprechen.“ Stimmt, dachte ich, jetzt, wo die Oma ohne Zähne redet, hört sich das ganz anders an. „Da haben sie sich doch eine Pause verdient. So wie wir, wenn wir müde sind und uns ausruhen. Also lege ich die Zähne nachts in die Dose. Ich brauch sie ja beim Schlafen nicht, denn da esse und spreche ich nicht. Morgens ziehe ich sie dann wieder an.“ Das leuchtete mir ein. Am nächsten Tag suchten wir einen Ersatz für den von mir zerdepperten Deckel. Wir fanden eine alte Teekanne, deren Deckel perfekt auf die Zahndose passte.

Als Großmutter einige Jahre später starb, durfte ich mit meiner Mama einen Tag vor der Beerdigung in die Leichenhalle, wo sie aufgebahrt war. Ich schaute mir Oma genau an und sah, dass sie ihr Gebiss nicht anhatte. „Wo sind denn Omas Zähne?“, fragte ich meine Mutter. Sie wusste es nicht und wir schauten gemeinsam bei Großmutter zu Hause nach. Da lagen ihre Zähne, wie ich es kannte, in der Dose neben ihrem Bett. Denn Oma war nachts im Schlaf gestorben. Ich steckte die Zähne und die Dose samt Deckel ein und nahm sie mit. Daheim reinigte ich das Gebiss gründlich, so wie Oma es mir gezeigt hatte. Dann legte ich sie wieder in die Dose und verschloss sie mit dem Teekannendeckel.

Am nächsten Morgen, kurz vor der Bestattung, legte ich die Dose in Omas Sarg, unten an den Füßen. Ich streichelte ihre kalte Hand. „Beim Ausruhen brauchst Du sie ja nicht“ flüsterte ich ihr ins Ohr. „Und wenn Du oben im Himmel mit den Engeln ein Schwätzchen halten willst oder wenn es leckere Weihnachtskekse vom Gabentisch des Herrn zu essen gibt, ziehst Du sie wieder an, ja?“

Fast meine ich, Oma hätte mir zugenickt. Gelächelt hat sie auf alle Fälle.