Bundestagsabgeordneter Erwin Rüddel im BLICK

„Im Juli ist die Herdenimmunität erreicht“

„Im Juli ist die Herdenimmunität erreicht“

Der Gesundheitsexperte Erwin Rüddel zeichnet ein positives Bild der Zukunft.

„Im Juli ist die Herdenimmunität erreicht“

„Was lief gut, was lief schlecht“: Hermann Krupp hatte einige Fragen zur Corona-Pandemie.

Region. Die Debatten in den Medien zum weiteren Verlauf der Corona-Pandemie sind bestimmt von Prognosen und Hochrechnungen, Hoffnungen und Rückschlägen und guten wie schlechten Nachrichten. Die Lage ist nicht nur dynamisch, sondern auch diffus. Die große Frage in Deutschland lautet: Wann gibt es endlich eine echte Rückkehr zur Normalität? Erwin Rüddel ist Vorsitzender des Gesundheitsausschusses des Deutschen Bundestags. Der CDU-Politiker aus Windhagen im Westerwald ist sich sicher: Die Trendwende kommt bald. Nun kam Rüddel zum Redaktionsgespräch mit Hermann Krupp, BLICK aktuell-Chefredakteur und Geschäftsführer des Krupp Verlages, nach Sinzig. Notbremse, Herdenimmunität und Corona-Leugner – Themen gab es an diesem Vormittag genug. Herausforderungen gibt es allemal, aber Rüddel gab sich konsequent optimistisch: „Wir sind auf einem sehr guten Weg“, so der Gesundheitsexperte.

Erwin Rüddel ist der Vorsitzende des Ausschusses für Gesundheit des Bundestages. Hermann Krupp interessiert sich zunächst für die Aufgaben dieses Gremiums. Rüddel stellt klar, dass es sich bei dem Ausschuss um ein vorbereitendes Beschlussorgan handelt. Somit besitzt der Ausschuss keine Entscheidungsgewalt, sondern kann nur Empfehlungen an den Bundestag aussprechen. Bis es zu einem solchen Ratschlag kommt, gehen diverse Beratungen voran. Obleute werden gehört, Experten halten entsprechende Vorträge, je nach Thema. Eine enge Abstimmung bestehe auch mit Gesundheitsminister Jens Spahn, der in viele Prozesse mit eingebunden werde und dem Ausschuss alle Fragen beantworte. Auch die Vertreter des Roland-Koch-Instituts sind in den Sitzungen stets mit dabei. „Streitgespräche gäbe es bei den Abwägungen nicht, sagt Rüddel. Als Gesundheitspolitiker werden wir uns schnell einig,“ so der Bundestagabgeordnete. „Schwierig wird es erst, wenn Rechtspolitiker hinzukommen“. Denn Gesundheitsschutz und Verfassungsrecht sind Themen, die miteinander harmonieren müssen. Diesen Einklang herbeizuführen sei mitunter schwierig.

„Merkel wollte die Notbremse nicht“

Als schwierig gestaltete sich die Einführung und Umsetzung der so genannten „Bundesnotbremse“, weiß Hermann Krupp. Der Chefredakteur interessiert sich jedoch nicht für deren Einführung, sondern bereits für das Ende der bundesweiten Bremse. Erwin Rüddel ist sich sicher, dass die Maßnahme noch im Mai beendet sein werde. „Ich rechne mit einem Ende der Notbremse in zwei bis drei Wochen“, sagt er. Schließlich sei das Land auf einem richtigen Weg. Die Impfquote steige, die Inzidenzen sinken langsam. Die Notbremse sei eine sinnvolle Maßnahme, die aber zu spät käme. „Ich hätte die Notbremse bereits vor drei Monaten eingeführt“, sagt Rüddel. Dass erst heute die Maßnahme zu tragen käme, läge an der Bundeskanzlerin. „Ich glaube, dass Angela Merkel stets gehofft hat, dass eine Senkung der Fallzahlen mittels der bei der Ministerpräsidentenkonferenz beschlossenen Maßnahmen möglich war“, vermutet Rüddel. „Merkel wollte die Notbremse nicht“, schiebt er hinterher. Er vermutet außerdem, dass auch das Regierungsende im September eine Rolle spielte. Stünde Merkel zur Wiederwahl, wäre die Situation anders. Sein Fazit fällt klar aus: „Wir haben zu lange gewartet.“

Dass es bei der Bewältigung der Pandemie in den letzten Monaten nicht immer rund liefe, sei auch dem Föderalismus geschuldet. Der sei zwar „gut, kommt aber in der Krise an seine Grenzen.“ Rüddel ist sich sicher, dass im Notfall eine übergeordnete politische Ebene entscheiden muss, schnell und länderübergreifend. Sprich: Der Bund. Die Schwächen des Föderalismus in Krisenzeiten ziehe sich bis auf die Kreisebene. Es können nicht sein, dass ein großer Teil der Landkreise immer noch nicht die Software Sormas zum Pandemiemanagement installiert habe. „Das ärgert mich,“ beklagt Rüddel. Er sehe bei der schleppenden Sormas-Einführung schlicht das Problem. „Das Programm bringe unglaublichen Nutzen, der Bund bezahlt es und die Schulung dauert zwei Tage,“ sagt der MdB sichtlich verärgert.

„Sormas und Apps sind ein interessantes Thema,“ findet Hermann Krupp. „Aber wie sieht es denn hier mit dem Datenschutz aus?“ möchte der BLICK aktuell-Chef wissen. Der Datenschutz sei ein sensibles Thema, das weiß Rüddel. Doch nach der Pandemie müsse man hier „dringend drüber reden.“ Eine Einschränkung des Datenschutzes in der jetzigen Notlage sei vertretbar gewesen. In anderen Ländern habe man mit zentralen Corona-Pandemiedaten gute Erfolge verbuchen können. So in Südkorea. Dort wurde eine 2. Corona-Welle mit sinnvoller Datenspeicherung komplett ausgeschaltet, während Deutschland mit der 3. Welle massiv zu kämpfen habe.

Biontech-Impfstoff in „rauen Mengen“

Für die Zeit nach der Pandemie interessiert sich auch Hermann Krupp. „Die Impfzahlen steigen zwar, dafür war der Start sehr schleppend“, blickt Krupp zurück auf den Jahresbeginn. „Warum war das so?“ „Wir sind die sichere Schiene gefahren“, sagt Erwin Rüddel. „Das hat uns sicherlich gelähmt“, fügt er hinzu. Ein Grund für den holprigen Beginn seien primär die Lieferengpässe der Impfstoffhersteller. Auch das Hin und Her über die Sicherheit des Impfstoffs von AstraZeneca trugen dazu bei. Rüddel betont: „Wir haben bei allen Abwägungen nicht politisch entschieden, sondern im Sinne des Gesundheitsschutzes.“ Das zahle sich nun aus, man sei auf einem sehr guten Weg. Blicke man auf die Nachbarn, sei das nicht überall der Fall. „Die Niederlande haben eine Inzidenz von über 300 – und trotzdem machen die auf“, schüttelt er den Kopf. Ähnlich sei die Situation in Österreich. Hier spiele die kommende Urlaubssaison wohl eine Rolle, vermutet der CDU-Politiker. Im Grunde sollte ein Vergleich mit anderen Ländern vermieden werden, denn der hinke sowieso. Die Situation sei überall anders, jedes Land habe mit individuellen Herausforderungen zu kämpfen. Im internationalen Vergleich wurde Chile als Musterbeispiel genannt. „Dort ist die Hälfte der Menschen geimpft, das ist zweifellos gut so“, meint Rüddel. „Aber die andere Hälfte geht gar nicht erst zum Impfen“, fügt er hinzu. Der Effekt der Herdenimmunität verpuffe. Denn dafür benötige es in der Theorie eine Impfung von 60 Prozent der Bevölkerung. Mittlerweile müsse man die Zahlen sowieso anders betrachten. Denn neue Mutationen schwächen den Effekt ab. In der Folge peile man nun eine Durchimpfungsrate von 70 Prozent an. Diese Zahlen können laut Rüddel auch schnell erreicht werden. Die Impfzahlen sind seit Ende April in die Höhe geschossen. Diese positive Entwicklung habe weitere positive Folgen und Rüddel wird konkret „Wir rechnen mit dem Erreichen der Herdenimmunität bereits im Juli“.

Hermann Krupp hakt nach: „Um dieses Ziel zu erreichen, muss genug Impfstoff da sein - wie ist die Lage?“ Der Bundestagsabgeordnete ist guter Dinge. „Es ist genug Impfstoff da, gerade der des Herstellers Biontech“, sagt er. „Hier erwarten wir Lieferungen in rauen Mengen“. Im Verlauf des Jahres steigen die Lieferzahlen bei Moderna, das gelte als gesichert. Im vierten Quartal wird zu den bestehenden Impfstoffen noch der des Herstellers Sanofi/GSK hinzukommen, insofern der Impfstoff zugelassen werde.

Nicht nur die Verfügbarkeit der Impfstoffe ist entscheidend. Um den gleichen Effekt wie in Chile zu vermeiden, sei es wichtig, dass die Menschen zum Impfen gehen. Es gäbe in Deutschland 13 Millionen Menschen, die zum jetzigen Zeitpunkt nicht geimpft werden können. Dies sind vor allem Kinder und Jugendliche sowie Schwangere. Dann gäbe es noch jene Menschen, die nicht geimpft werden wollen. Beide Gruppen erschweren das Erreichen der Herdenimmunität. Das gilt besonders für Impfgegner, die laut Rüddel etwa fünf bis sechs Prozent der Bevölkerung ausmachen. Deshalb müsse man darüber sprechen, auch Jugendlichen, die geimpft werden wollen, ein frühes Angebot zu machen, obwohl sie im Grunde noch nicht dürfen. Das sei eine wichtige Debatte, die zurzeit anlaufe, so Rüddel. Grundsätzlich sei die zeitliche Prognose, wann auch Jugendliche einen Impftermin erhalten können, gar nicht schlecht. Die Prüfung der Zulassung des Impfstoffs von Biontech laufe gerade. Die Vergabe der Termine für Jugendliche soll blockweise erfolgen. Zunächst kommen die 16- und 17-jährigen an die Reihe. Dies soll noch im Sommer der Fall sein. Im Herbst sollen die Altersgruppen 12 bis 15 folgen. Kinder im Alter unter zwölf Jahren sollen erst im Jahr 2022 geimpft werden.

Rüddel zeichnet somit ein positives Bild der Ist-Situation. Krupp macht sich jedoch Sorgen um den Einzelhandel. „Bedeutet dies, dass erst wieder geöffnet wird, wenn die Herdenimmunität erreicht ist?“ hakt der Unternehmer Krupp nach. „Nein,“ sagt Rüddel mit Nachdruck. Öffnungen und Impfen stünden miteinander in Verbindung. Dies sei als Parallelwelle zu begreifen. Schritt für Schritt impfen und öffnen sei die einzig richtige Lösung. Die Zeichen ständen derzeit gut. Für Rüddel sei es jedoch ganz wichtig, dass das „Hick-Hack mit den Öffnungen und Schließungen“ endlich aufhört. „Wir brauchen klare Perspektiven“, sagt er. „Die Richtung stimmt auf jeden Fall“, fügt er hinzu. In den kommenden Wochen stehen weitere Maßnahmen an, die den positiven Trend beschleunigen sollen. „Wenn ab Juni auch die Betriebsärzte mitimpfen, dann kommt weiter Fahrt rein“, ist sich der CDU-Mann sicher. Dann wäre auch der Zeitpunkt erreicht, um die Impfzentren in den Kreisen schrittweise herunterzufahren. Sie würden dann schlicht nicht mehr in dem Ausmaß benötigt, wie es jetzt noch der Fall ist.

Mehr Erleichterung für Geimpfte, Genesene und Getestete

Mit einer Impfung alleine ist es nicht getan. Das weiß auch Hermann Krupp. „Wie hoch ist der Impfschutz in Bezug auf die Mutationen und wie oft müssen wir zukünftig zur Auffrischung?“ lautet die Frage. Grundsätzlich sei der Schutz auch nach der Erstimpfung gut. Der läge drei Wochen nach der ersten Injektion bei 80 Prozent. Die gute Nachricht sei, dass die aktuellen Impfstoffe auch die aktuelle indische Mutation abdecken. Bei der Frage zur Auffrischung der Impfung, lohne sich der Vergleich mit der Grippe. Mutationen der Grippeviren seien laut Rüddel regelmäßiger, aber auch vielfältiger und variantenreicher. Es könne also sein, dass gegen den Corona-Virus nicht so oft aufgefrischt werden müsse wie es bei der Grippe der Fall ist. MRNA-Impfstoffe wie der des Herstellers Biontech seien laut Rüddel besser für eine Auffrischung. Eine Auffrischung per Impfstoff lohne sich auch bei Personen, die bereits eine Corona-Erkrankung durchgemacht haben. „Sechs Monate nach der Genesung ist eine einzelne Spritze sehr sinnvoll“, empfiehlt der Vorsitzende des Gesundheitsausschusses.

Trotz der positiven Signale lassen sich die Startschwierigkeiten nicht ausklammern. Da ist sich Hermann Krupp sicher. „War der Einkauf der Impfstoffe über die EU die falsche Herangehensweise?“ möchte er von dem Gesundheitsexperten wissen. „Der Einkauf über die EU war richtig. Aber die EU hat viele Fehler gemacht“, sagt Rüddel. Es sei viel zu lange diskutiert und das Thema wurde nicht richtig ernst genommen. „Glücklicherweise haben die Länder nicht groß auf die EU gehört“, sagt Rüddel nicht ohne Ironie.

„Ein großes Thema ist die Erleichterungen im Alltag für Geimpfte“, so der BLICK aktuell-Chef. „Wie stehen Sie dazu?“, möchte er von Rüddel wissen. Rüddel sei der Meinung, dass den Menschen ihre vollständigen Bürgerrechte zurückgegeben werden müssen, sobald der Grund der Einschränkung nicht mehr besteht. Geimpfte, Genese und Getestete sollen von Erleichterungen profitieren, ist sich Rüddel sicher. Ein Konzept dazu soll bis Ende Mai stehen.

Erleichterungen soll auch der digitale EU-Impfpass bieten. Hermann Krupp fragt, wie es um den Entwicklungsstand steht. Erwin Rüddel: „Wir sind optimistisch, dass wir den Pass 2021 noch hinbekommen.“ Der Pass sei wichtig, aber auch die Bedeutung der elektronischen Patientenakte sei in der Pandemie gewachsen. Das seien beides Themen, die „wir hinbekommen müssen“, so Rüddel. „Geht es um Impfgegner sprechen wir von einem Bevölkerungsanteil von fünf bis sechs Prozent“, fasst Hermann Krupp zusammen. „Aber dann gibt es auch noch jene Menschen, die Corona schlicht leugnen“, fügt Krupp hinzu. „Wie gehen Sie mit diesen Menschen um?“, fragt er. „Ich empfehle jedem, der das Virus leugnet, ein Krankenhaus zu besuchen und sich dort umzuschauen“, so Rüddel resolut. „Dazu braucht man nicht einmal auf die Intensivstation zu gehen“, sagt er. Denn die Auswirkungen seien auch auf herkömmlichen Stationen bedrückend genug. „Fragen Sie doch mal eine Krankenschwester, ob es Corona gibt oder nicht“, so Rüddel in Richtung der Virusskeptiker.

Text/Fotos: Daniel Robbel