Eine besondere Martinsgeschichte in einem besonderen Jahr
Sankt Ma(h)rtin, die Gummistiefel und der Eimer
Von Gregor Schürer

Ich sitze am 11. November am Frühstückstisch und fühle mich ein wenig verkatert, obwohl ich am Abend vorher nur das übliche Gläschen Rotwein getrunken habe. Meine Frau ist es gewohnt, dass ich gelegentlich morgens etwas zerknittert aussehe, sie sagt: „Schätzchen, Du schaust müde aus; hast Du nicht gut geschlafen?“ „Doch“, entgegne ich, „eigentlich schon. Aber ich habe so was Komisches geträumt, das hängt mir noch ein wenig nach. Ich trinke erst einmal eine Tasse Kaffee.“ Ich nehme den Becher mit dem koffeinhaltigen Wachmacher in die Hand, er duftet verheißungsvoll und schmeckt noch köstlicher, als er aussieht. „Schon besser“, murmele ich. „Magst Du mir erzählen von deinen nächtlichen Abenteuern im Schlaf?“, fragt sie. „Einverstanden“, willige ich ein, „aber nur, wenn Du mir derweil ein Butterbrot mit Honig schmierst.“ Meine bessere Hälfte macht sich ans Werk und ich beginne:
„Wir beide, also Du und ich, stehen irgendwo am Straßenrand und warten darauf, dass der heilige Sankt Martin vorbei geritten kommt. Obwohl wir beide Erwachsene sind und keine Kinder, haben wir jeder eine Laterne dabei, in der ein Lämpchen brennt. Es sind zwei von den Fackeln, die unsere Töchter vor Urzeiten im Kindergarten und in der Schule selbst gebastelt haben und die wir irgendwo aufbewahrt haben. Es ist schon ziemlich spät und Du bist durchgefroren, quengelst und willst nach Hause. „Er kommt dieses Jahr nicht, lass uns heimgehen“, sagst Du. „Doch, er wird sicher kommen, er kommt immer, vielleicht hat er sich nur ein wenig verspätet“, antworte ich. Da plötzlich Hufgeklappere, ein Mann hoch zu Ross reitet die Straße entlang. Kurz bevor er uns erreicht, zieht er die Zügel an, das Pferd bleibt schnaubend stehen, direkt vor uns. Kein Zweifel, das ist Sankt Martin, obwohl er etwas anders aussieht als sonst. Er trägt wie gewöhnlich einen Helm und einen roten Umhang. Aber statt der Ledersandalen hat er Gummistiefel an den Füßen und statt des Schwerts baumelt am Sattel ein Eimer. „Da wartet ja doch noch jemand auf mich“, ruft er uns freundlich zu. Wir sind zunächst sprachlos, bis sage: „Ja, schön dass wir nicht umsonst ausgeharrt haben.“ Ziemlich unhöflich frage ich: „Aber sagen Sie mal, wie sehen Sie denn aus?“
Meine Liebste reicht mir wortlos das Honigbrot. Ich beiße hinein, mampfe genüsslich und fahre dann fort:
„Sie haben Glück“, entgegnet der Heilige Mann. „Tatsächlich wäre ich fast nicht gekommen. Ich hatte den Glauben an die Menschen schon ein Stück weit verloren. Dachte, sie werden meine Botschaft vom Helfen und Teilen wohl nie verstehen. Ich habe so viel Egoismus, so viel gegeneinander statt Miteinander erlebt, dass ich beinahe verzweifelt bin. Doch dann haben mich die Menschen eines Besseren belehrt. Als die Flut kam, sah ich überall Menschen, die halfen. Zu Hunderten, nein zu Tausenden kamen sie mit Gummistiefeln in den ersten Tagen in das geschundene Tal, ohne dass sie jemand gerufen hatte. Sie fragten nicht, sie handelten. Wo eine oder einer nicht genügte, kamen viele zusammen. Gemeinsam haben sie das geschafft, was man alleine nicht hinbekommt. Hand in Hand wurde gearbeitet, jede und jeder an seinem Platz. Sie haben den Opfern geholfen, aufzustehen, so wie ich damals dem Bettler aufgeholfen habe. Für alle diese Helfer trage ich die Gummistiefel an meinen Füßen und den Eimer an meinem Sattel.
Und dann sah ich Menschen, die teilten. Sie haben zum einen das Los der Betroffenen geteilt, sie getröstet, Anteil genommen an ihrem schweren Schicksal. Aber sie haben auch ihr Eigentum geteilt, Essen, Güter und Geld verschenkt. Vielleicht nicht jeder und jede, aber viele haben abgegeben, was sie konnten. Sie haben den Opfern etwas aus ihrem Besitz geschenkt, so wie ich damals dem Nackten meinen halben Mantel geschenkt habe. Trotz all dem Leid - das hört sich etwas komisch an - war das das Schönste, was ich seit Langem erlebt habe. Vor all diesen Menschen ziehe ich meinen Helm.“ Er nimmt den Römerhelm ab und deutet eine Verneigung an. Wir schweigen. Dann sage ich, keine Ahnung, woher die Eingebung kommt: „Danke, lieber Sankt Martin. Wir wollen dir dazu ein Lied singen.“ Und wir zwei stimmen an:
„Sankt Martin, Sankt Martin, schippte Schlamm und Dreck,
er trug ihn mit dem Eimer weg,
er half, da wo zu helfen war, in diesem ganz besondren Jahr….“
Als das Lied zu Ende gesungen ist, nickt Martin uns lächelnd zu, tritt sein Pferd ganz sacht mit den Gummistiefeln in die Flanken und reitet, der Eimer baumelt im Trab.“
„Aber das ist doch ein ganz wunderbarer Traum!“ sagt meine kluge Frau. „Da hatte ich wohl eine Vorahnung, schau mal, was ich dir gebacken habe.“ Sie reicht mir einen Teller über den Tisch, ich schaue und mein Mund bleibt vor Staunen offen stehen. Darauf liegt ein Weckmann. Und statt der üblichen Pfeife trägt er - einem Eimer.
SCHÜ