Ein tragisches Unglück vor 70 Jahren stürzte Miesenheimer Familien in tiefe Trauer
Der 2. Weltkrieg forderte auch nach seinem Ende noch Opfer
Bewegende Erinnerung an Ilse Stenz geb. Blum, Thekla Schmitz und Toni Sauerborn - von Friedel Sauerborn
Miesenheim. Am 27. Juli 1945 ereignete sich nach Kriegsende noch ein schreckliches Unglück in Miesenheim: Dabei wurden die damals 15-jährigen Mädchen Ilse Blum (später verheiratete Stenz) und die gleichaltrige Thekla Schmitz schwer verletzt. Und mein elfjähriger Bruder Toni Sauerborn erlag vier Tage später, am 31. Juli 1945, im damaligen Krankenhaus in Saffig seinen schweren Verletzungen. Leider habe ich selbst meinen Bruder Toni nicht gekannt, da ich erst im April 1947 geboren wurde. Vielleicht war sein Tod für meine Eltern Luise und Anton Sauerborn - besonders für meine Mutter, die keine schöne Kindheit erleben durfte - ausschlaggebend für den Wunsch, nochmals mit einem Kind neuen Lebensmut zu schöpfen. Sie hatten noch meinen Bruder Josef, (Jupp, d. Red.) der 14 Jahre älter war als ich. Es gibt sowohl bei der Verbandsgemeinde Pellenz (damals Amt Andernach-Land) als auch bei der Stadt Andernach keine Aufzeichnungen zu dem Unfall. Und über das Unglück wurde in der Familie nie viel gesprochen; mein Vater starb bereits, als ich zehn Jahre alt war und die Mutter wollte nie viel über ihr Leid sprechen. Aber es gibt noch einen Zeitzeugen, der bei dem Unglück mit dabei war: Kastor Blum, der gleichaltrige Klassenkamerad meines Bruders Toni, Freund von meinem auch bereits verstorbenen Bruder Jupp, und Bruder der damals verunglückten Ilse Blum. Es leben auch sonst sicher noch viele Miesenheimer, die Toni gekannt haben oder sogar mit ihm zusammen in der Volksschule die Schulbank geteilt haben. Und ebenso ist es mit der Erinnerung an die beiden damals betroffenen Mädchen Thekla und Ilse.
Berichte von Zeitzeugen und Fotos hat Friedel Sauerborn zusammengetragen. Bilder aus dieser Zeit wurden mithilfe der Firma Künster-Druck in Andernach-Miesenheim aufgearbeitet. Die amtliche Todesursache von Toni Sauerborn wurde von Karl-Heinz Scheuren recherchiert.
Was war geschehen?
Sommer 1945, der Krieg war seit Anfang Mai vorbei. Die Menschen atmeten auf, das Joch des Zweiten Weltkrieges war abgeschüttelt. Sicher hatten viele noch an der Trauer über verlorene Familienmitglieder zu leiden, der Überlebenskampf war beileibe noch nicht zu Ende. Aber die Familien von Alex Blum in der Mittelstraße und Anton Sauerborn in der Hauptstraße in Miesenheim hatten Glück. Sie hatten die Jahre heil überstanden. Während der Kriegsjahre hatte man sich gegenseitig bei der Landwirtschaft geholfen und Anton Sauerborn war früh aus der Kriegsgefangenschaft heimgekehrt. Die Amerikaner kamen am 8. März 1945 nach Miesenheim. Anfang April wurde dann den Landwirten die Freigabe zur Bewirtschaftung der Felder erteilt. Bombentrichter und Einschlagslöcher von Granaten wurden zugeschaufelt, so haben auch die Blums und Sauerborns gemeinsam ihre Felder bestellt. Dabei wurde auch ein der Familie Blum gehörendes Feld „In den hintersten fünfzehn Morgen“, zwischen Miesenheim und Weißenthurm gelegen, mit Hafer eingesät, die Tragik nahm ihren Lauf ...
Kastor Blum (damals elf Jahre alt) erinnert sich - und man merkt ihm an, wie sehr ihn das Erlebnis auch heute, nach 70 Jahren, noch beschäftigt: „Es war ein schöner Sommertag. Wir fuhren gut gelaunt freitags, am 27. Juli um etwa 14 Uhr, mit Pferden und Mähmaschine zum erwähnten Flurstück, um das letzte Getreidefeld von meinen Eltern abzuernten. Meine Eltern Alex und Maria Blum hatten meine Schwester Ilse und mich mitgenommen. Bei Anton und Luise Sauerborn halfen ihre Kinder Jupp, damals zwölf Jahre alt, und Toni mit im Feld. Auch die 15-jährige Thekla Schmitz aus der Nachbarschaft in der Mittelstraße war bei der Erntearbeit mit dabei. Wir hatten das Feld bereits zur Hälfte abgeerntet und alle freuten sich, dass die Arbeit bis dahin so gut gelungen war und bald Kaffeepause sein sollte. Jupp und ich waren vorne bei den Pferden Moritz und Lore, die die Mähmaschine zogen. Toni, Thekla und Ilse liefen etwa 20 bis 30 Meter hinter der Mähmaschine und bereiteten die Getreidehalme vor (sogenannte Bennele, d. Red.), mit denen die Garben eingebunden werden sollten. Toni bemerkte ein leichtes Qualmen und ein zischendes Geräusch und rief Thekla und Ilse zu: ‚Heh - kommt mal her, hier zischt etwas!‘ Unglücklicherweise liefen die beiden auch noch dorthin. Es gab dann urplötzlich einen fürchterlichen Knall, Granatsplitter sausten durch die Luft und eine dichte Qualmwolke verdeckte allen die Sicht. Alle im Feld rannten verstört zu der Unglücksstelle. Auch Johann Höfer und dessen 16-jährige Tochter Betty eilten von einem Nachbarfeld herbei, um zu sehen, was geschehen war und in der Not zu helfen. Die aufkommende Hektik und Verzweiflung, als wir alle registriert hatten, was geschehen war, ist nicht zu beschreiben. Nach den ersten Einschätzungen war meine Schwester Ilse am schwersten verletzt. Sie blutete sehr stark an Knie, Oberschenkel und Hüfte und konnte weder stehen geschweige denn gehen. Die im Feld anwesenden Frauen versuchten mit Kopftüchern und Schürzen, die Männer mit Taschentüchern und ihren zerrissenen Hemden die Blutungen zu stillen. Johann Höfer und mein Vater haben dann Ilse auf Stroh auf eine Pflugkarre gebettet und mit einem der beiden Pferde nach Saffig in das damalige Krankenhaus gefahren. Ihre Verletzungen waren, wie sich später herausstellte, nicht lebensgefährlich, es handelte sich um große offene Fleischwunden. Muskeln und Gewebe waren bei ihr von vielen Splittern durchdrungen. Hierunter hatte sie aber zeit ihres Lebens zu leiden, ehe sie im Juni 1990 verstarb. Die Verletzungen von Thekla Schmitz waren offensichtlich zunächst nicht so gravierend und akut nicht lebensgefährlich, sie war aber auch von sehr vielen Splittern getroffen worden. Ich weiß nicht mehr von wem, aber sie wurde von einem der Männer nach Hause gebracht.“
Auch die noch lebende 83-jährige Schwester von Thekla Schmitz - Luise Bürckel geb. Schmitz kann das Unglück nicht vergessen: „Unsere Mutter und der Vater waren vom Aussehen der Verletzungen meiner Schwester sehr geschockt und haben uns Geschwistern den Anblick von Thekla nicht gestattet. Sie wurde dann auch im Saffiger Krankenhaus operiert, wo sie nach etwa einem Monat entlassen wurde, wobei die Splitter nicht alle entfernt werden konnten. Sie nahm dann im Haushalt des Bruders von Frau Staudinger in Gladbach eine Stelle an, die sie im Laufe des Jahres 1946 aufgeben musste. Die Splitter verursachten wieder sehr starke Beschwerden und sie verstarb dann am 10. Oktober 1946, vielleicht auch an den Folgen dieses Unglückes.“
Kastor Blum erzählt weiter: „Dein Bruder Toni stand am nächsten am Explosionsort. Seine Verletzungen konnten wir nicht abschätzen, er klagte aber über starke Schmerzen im Unterbauchbereich, sein weißes Unterhemd war von unzähligen kleinen Splittern durchschlagen.
Toni ging noch zusammen mit seinem Vater zu Fuß Richtung Dorf, nach etwa dreihundert Metern musste er aber von seinem Vater getragen werden und am Anfang von Miesenheim hat man ihn auf einen Handwagen gelegt und nach Hause gefahren. Von dort wurde auch er dann nach Saffig ins Krankenhaus gebracht. Seine Verletzungen an Blase und Lunge waren so schwer, dass er daran am 31. Juli 1945 verstarb. Diesen Nachmittag werde ich mein ganzes Leben lang nicht vergessen, zumal drei befreundete Familien davon betroffen waren und ein Freund von mir dabei sein Leben verloren hat!“
Kastor Blum berichtete mir, dass nicht geklärt werden konnte, um welches Geschoss es sich gehandelt hat, das damals explodiert war. Johann Höfer und sein Vater meinten, dass es sich um eine Handgranate oder Eierhandgranate gehandelt haben müsste. Vor allem konnte man auch nicht nachvollziehen, wie diese im Lauf der Zeit auf das Feld gelangt war, welches nach Ende der Kriegshandlungen im April aufbereitet und eingesät und mehrfach bis zur Ernte begangen worden war. Etwa 150 bis 200 Meter entfernt stand vorher eine „Flak“, an deren Platz nach Ende des Krieges noch viel Munition zurück geblieben war. Es ist müßig, darüber nachzudenken, ob ein von dort abgefeuertes Geschoss einmal als Blindgänger in dem Unglücksfeld gelandet war.
In den Büchern vermerkt
Toni verstarb am 31. Juli 1945, um 5.30 Uhr. In den Büchern ist vermerkt: „Schüler Anton Jakob Sauerborn, Miesenheim, Hauptstraße 31, ist am 31.7.1945, 5.30 Uhr, in Saffig, Kreis Mayen, in der Ausweichstelle des St. Josef Krankenhaus, Koblenz verstorben. Geb. am 7.8.1934 in Miesenheim, S. v. Anton S. und Maria Luise geb. Müller, Todesursache: Sprengschussverletzung am Kopf, Brust und Bauch, Herz und Kreislaufschwäche.“
Ich weiß von meiner Mutter, dass Toni gerne das Gymnasium in Andernach besucht hätte und er einmal gesagt hat: „Mama, wenn der Papa aus dem Krieg heimkommt, darf ich dann aufs Gymnasium gehen?“ Leider konnte ihm dieser Wunsch nicht erfüllt werden. Obwohl unser Vater 1957 starb, als ich gerade zehn Jahre alt war, haben meine Mutter und mein Bruder Jupp mir (auch im Gedenken an Toni?) diesen Schulbesuch ermöglicht - dessen werde ich mir immer dankbar bewusst sein.
Bedeutsame Erinnerung
Ich danke sehr herzlich Kastor Blum, ohne dessen bewegende Erzählung des auch für ihn so bedeutsamen Ereignisses dieser Bericht nicht möglich gewesen wäre. Ebenso danke ich Luise Bürckel geb. Schmitz, die auch heute noch weiß, wie sehr ihre Eltern unter diesem Unfall ihrer Schwester und den Folgen gelitten haben.
Friedel Sauerborn
