Stolpersteine gegen das Vergessen - Wie denken Sie drüber liebe Leserinnen und Leser?
Stolpern im Kopf und im Herzen
Köln. Sie sind nichts für den ersten Blick, die glänzenden zehn mal zehn Zentimeter großen Pflastersteine. Und man muss schon ein zweites Mal hinsehen und auch stehen bleiben, um die Inschriften auf den in den Stein eingelassenen Messingtafeln lesen zu können. So soll das auch sein. Auf dem Weg zwischen Bäcker und Bushaltestelle, zwischen Büro und Tiefgarage liegen sie: Stolpersteine. Und sie sollen mitnichten zum Stolpern oder gar zum Hinfallen führen, sondern vielmehr dem Innehalten dienen, dem Gedenken. Trotz des Namens geht dem Initiator Gunter Demnig nicht um das wirkliche „Stolpern“. Auf die Frage nach dem Namen des Projektes zitiert er gerne einen Schüler, der nach der tatsächlichen Stolpergefahr gefragt wurde und daraufhin antwortete: „Nein, nein, man stolpert nicht und fällt hin, man stolpert mit dem Kopf und mit dem Herzen.“
Denn mit diesen Gedenksteinen soll an das Schicksal der Menschen erinnert werden, die vom nationalsozialistischen Regime ermordet, deportiert, vertrieben oder in den Freitod getrieben worden sind. Die Steine werden vor den letzten frei gewählten Wohnorten dieser NS-Opfer niveaugleich in das Pflaster der Gehwege eingelassen. So wie die von Dr. Edwin Landau und dessen Frau Julie, einem Koblenzer Ehepaar, das zuletzt am Deinhardplatz 4 wohnte. Seit Januar 2009 liegt ebenda ihr Stolperstein. Darauf ist das traurige Schicksal in Eckdaten zusammengefasst: Geburtsdatum, Name, Zeitpunkt und Umstände ihres Todes. „JULIE LANDAU GEB. WOLLHEIM, JG. 1870, GEDEMÜTIGT/ENTRECHTET, FLUCHT IN DEN TOD, 7.7.1942.“
Dramatisch und ungeheuerlich
So knapp die Angaben, so dramatisch und ungeheuerlich sind sie. Gerade drum. Genau das ist eine Intention dieser Aktion, die auf den Kölner Gunter Demnig zurückgeht. Der 1947 in Berlin geborene Künstler möchte mit den Stolpersteinen den Arisierungs-Opfern, die in den Konzentrationslagern zu Nummern reduziert und degradiert wurden, ihre Namen zurückzugeben und mit ihnen ihre Geschichten, ihre Schicksale. Das zum Lesen der Stolpersteine notwendige Bücken soll eine symbolische Verbeugung vor diesen Opfern sein. Zudem soll die Markierung der letzten Lebensräume der Nazi-Opfer - inmitten dicht besiedelter, innerstädtischer Bereiche - die von einigen Zeitzeugen immer wieder vorgebrachte Schutzbehauptung infrage stellen, wonach man von den Deportationen nichts mitbekommen habe soll.
Mit Letzterem setzt Gunter Demnig auch ein Zeichen gegen zentrale Gedenkstätten, die seiner Meinung nach in der Öffentlichkeit nicht hinreichend wahrgenommen würden. Dort werde einmal im Jahr von Honoratioren ein Kranz niedergelegt, „aber andere können die Mahnmale einfach umgehen“, so der Künstler. Ziel seiner Stolpersteine sei es daher vielmehr, die Namen der Opfer zurück an die Orte ihres Lebens zu bringen.
Weltweit größtes dezentrales Mahnmal
Seinen Anfang nahm dieses Projekt vor gut 20 Jahren: Den ersten, mit einer beschrifteten Messingplatte versehenen Stein ließ Demnig am 16. Dezember 1992, dem 50. Jahrestag des Befehls Heinrich Himmlers zur Deportation der „Zigeuner“, vor dem Historischen Kölner Rathaus in das Pflaster ein. Auf dem Stein zu lesen sind die ersten Zeilen dieses „Auschwitz-Erlasses“. In den Folgejahren wurde das Gedenken auf alle NS-Verfolgten ausgedehnt und 1994 kam es zu einer ersten Ausstellung von 250 Stolpersteinen in der Antoniterkirche in Köln. Am 4. Januar 1995 verlegte Demnig ohne Genehmigung die ersten Steine im Kölner Stadtgebiet. Behördlich abgesegnet konnte er - nach Einladung von Gedenkdienst-Gründer Andreas Maislinger - in Sankt Georgen bei Salzburg die ersten beiden Steine am 19. Juli 1997 installieren. In Deutschland aber sollte es noch bis 2000 dauern, um in Köln amtlich genehmigte Stolpersteine verlegen zu können. Danach wurde das Projekt mehr und mehr zum Selbstläufer und inzwischen hat es sich zum größten dezentralen Mahnmal der Welt entwickelt, ist international anerkannt und preisgekrönt.
Mittlerweile liegen über 35.000 Steine in rund 750 Orten in Deutschland, Österreich, Ungarn, Tschechien, Slowakei, Polen, Niederlande, Ukraine, Norwegen und Dänemark. Sie alle erinnern an ermordete Juden, Sinti und Roma, Kommunisten, Zeugen Jehova, Homosexuelle und Euthanasie-Opfer.
Kritik, Hohn und Zerstörung
Aber nicht überall freut man sich über diese kleinen großen Mahnmale. Es gibt auf Kritik an ihnen, die bis hin zur Zerstörung führt. 2004 wurden in Halle/Saale Stolpersteine aus dem Boden gerissen und im Dezember 2005 gar mit Teer übergossen. Im vergangenen Jahr wurden in Wismar Ende September 9 von 13 Stolpersteinen mit einer Stahlplatte überklebt, auf denen die Lebensdaten von deutschen Kriegsteilnehmern eingestanzt waren. Außerdem waren auf den Platten Rang und Auszeichnung der Veteranen eingestanzt, wie z.B. „SS-Division Wiking“ und „Eisernes Kreuz“. Und ausgerechnet am 9. November brachen Unbekannte in Greifswald alle elf Stolpersteine aus dem Pflaster und stahlen sie.
Doch die Ablehnung hat nicht nur solche, wohl klar politisch motivierten Gründe. Münchens Stadtrat zum Beispiel entschied 2004 mit großer Mehrheit, dass „Stolpersteine“ nicht auf öffentlichem Grund angebracht werden dürfen. Eines der Hauptargumente lieferte Oberbürgermeister Christian Ude (SPD) „Über die Stolpersteine geht der Alltagsverkehr im Wortsinn tagtäglich hinweg. Der Stadtrat will keine Form des Gedenkens, die im Alltag mit Füßen getreten wird.“ Und auch Charlotte Knobloch, die ehemalige Vorsitzende des Zentralrats der Juden und Vizepräsidentin des Jüdischen Weltkongresses, die als Sechsjährige die „Reichspogromnacht“ miterlebte, findet wenig Gefallen an den Steinen. „Ich habe als Kind erlebt, wie Menschen mit Füßen getreten wurden. Ich möchte nicht, dass ihr Gedenken im Straßenschmutz liegt.“
Was meinen Sie dazu?
In der oft kontrovers geführten Diskussion über die Verlegung neuer Steine wird auch immer wieder das Argument angeführt, Rechtsradikalen werde es durch die „Stolpersteine“ leicht gemacht, die Holocaust-Opfer zu verhöhnen, wozu sogar im Internet aufgemuntert wird: „Es muss doch für jeden, der kein ausgemachter Freund der Juden ist, ein göttliches Geschenk sein, ungestraft mit Schuhen auf den Steinchen stehen zu können.“
Aber Vandalismus und Hohn gibt es überall. Soll man wegen solcher Einzelfälle das Gedenken aufgeben? Wäre das nicht ein Einknicken vor den Rechten? Oder sind diese Gedenksteine aus Ihrer Sicht vielleicht auch zu politisch für den Öffentlichen Raum? Gehören Gedenken und Mahnen an andere, geschützte und eigens dafür ausgewiesene Plätze? Oder soll man knapp 60 Jahre nach Ende der Nazi-Herrschaft überhaupt noch erinnern und gedenken? Wird es vielleicht nicht langsam auch Zeit, mit dem Vergessen anzufangen und dem Versöhnen Platz zu geben?
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Gedemütigt und entrechtet, 1936 Umzug nach Berlin, entgeht der Deportation am 7. Juli 1942 durch Selbstmord: Julie Landauer. Foto: wikipedia/Holger Weinandt
