Der schwierige Auftrag an die Kinder- und Jugendhilfe

„Systemsprenger“:Herausforderung und Herzenssache

„Systemsprenger“: Herausforderung und Herzenssache

Daniela Hoffmann, Bereichsleitung der Jugendhilfeabteilung der Mayener Lebenshilfe. Foto: Behrendt&Rausch

Kreis MYK. Aktuell stellt die Corona-Krise auch die Jugendhilfe und ihre Mitarbeiter vor eine große Herausforderung. Neben der Infektionsgefahr steht dem sinnvollen Abwägen zwischen Schutz der Gesundheit jedes einzelnen Kindes und Mitarbeiters, vor allem die Aufrechterhaltung des Kinderschutzes weiter im Fokus. Viele Kinder, die in den Wohngruppen der Lebenshilfe leben, können nicht einfach nach Hause geschickt werden. Daher müssen die Mitarbeiter in Verantwortung ihrer betreuten Kinder, Jugendlichen und Familien ihre Hilfsangebote aufrechterhalten und tagesaktuell sinnvoll anpassen. Hier ist eine individuelle Abstimmung mit dem jeweiligen Sachbearbeiter im Allgemeinen sozialen Dienst des Jugendamtes notwendig, um gemeinsam jeden einzelnen Fall verantwortungsvoll durch diese Zeit zu begleiten.

Einen kleinen Einblick in die Herausforderungen der täglichen Arbeit der Jugendhilfe zeigt der aktuelle preisgekrönte Kinofilm „Systemsprenger“, der derzeit das Publikum berührt.

Das Drama stellt ein Mädchen in den Mittelpunkt, das als titelgebender Systemsprenger einen Leidensweg zwischen wechselnden Pflegefamilien, Aufenthalten in der Psychiatrie, Jugendhilfeeinrichtungen und erfolglosen Teilnahmen an Anti-Aggressions-Trainings durchläuft.

Ende des vergangenen Jahres veranstaltete die Mayener Lebenshilfe gemeinsam mit dem Jugendamt einen Kinoabend mit anschließender Diskussionsrunde für ihre Mitarbeiter. Zwei Stunden war es still im Corsokino. Keine Chipstüte, kein Popkornbeutel raschelte. Betroffenheit und Sprachlosigkeit machten sich bis zum letzten Platz im gefüllten Saal breit.

Mit gerade mal neun Jahren ist die Hauptfigur Benni aufgrund ihrer Wut- und Gewaltausbrüche durchs Netz beinahe jeder Institution gefallen und zu einem Fall geworden, der in der Kinder- und Jugendhilfe als „Systemsprenger“ bezeichnet wird. Dass hinter Bennis unberechenbarem Verhalten eine schwere frühkindliche Traumatisierung steckt, ist den Behörden bekannt. Trotzdem sind die meisten Pädagogen, die sich um ihre Reintegration bemühen, angesichts ihres Verhaltens hilflos.

Für die Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen der Jugendhilfe trauriger Alltag weiß Daniela Hoffmann, Bereichsleitung der Jugendhilfeabteilung der Mayener Lebenshilfe:

„Der Film bewegt und spiegelt sehr eindrucksvoll unseren ganz normalen Arbeitsalltag wider. Beim Schauen hatte ich sofort einige Kinder unserer Jugendhilfegruppen vor Augen, die ein fast identisches Schicksal teilen“, so Hoffmann und benennt insbesondere das Problem der Bindungsstörung als eine Ursache für Verhaltensauffälligkeiten.

Die Kinder haben häufig in ihrer Ursprungsfamilie aufgrund verschiedenster Problemlagen nie eine sichere Bindung erleben können. Gravierend sei es dann, wenn die Kinder und Jugendlichen selbst in Facheinrichtungen nicht tragbar für das vorhandene System seien, zum Beispiel wegen massiver Regelbrüche oder fremd- und eigengefährdenden Verhaltens.

„Das sind deutliche Grenzen, mit denen wir als Fachkräfte konfrontiert werden. Wir können in unseren Gruppen familienähnliche Wohnsettings gestalten und versuchen zumindest eine solide Basis und Stabilität zu gewährleisten. Das primäre Ziel ist häufig nicht „die Heilung.“ Massive Bindungsstörungen, wie sie bei einigen unserer Kinder und Jugendlichen vorliegen, sind leider oft irreversibel. Wir arbeiten vorwiegend an der Reduzierung von Quantität und Qualität der Krisen. Das Erreichen wir nur, wenn wir vor allem in Krisenzeiten beweisen, dass wir ein tragfähiges Beziehungsangebot aufrechterhalten wollen. Unsere Mitarbeiter müssen aber stets eine professionelle Distanz wahren und können nicht die Bindung eines Elternteils ersetzen,“ erklärt die Bereichsleiterin.

Dieses Problem wird in dem Film unter anderem deutlich, als das Mädchen Benni eines Abends aus der Wohngruppe abhaut, bei ihrem Betreuer zu Hause und dessen Familie auftaucht und zu ihm ins Bett kriechen möchte, weil es Nähe sucht. „Dies geht natürlich nicht, auch wenn es in dieser Situation genau das gewesen wäre, was das Kind gebraucht hätte“, so Daniela Hoffmann und macht deutlich, dass dies auch ein großes Problem für die Mitarbeiter darstelle, die selber emotional eng mit den Kindern und deren Schicksal verbunden seien. „Unsere Mitarbeiter üben täglich einen Drahtseilakt aus. Auf der einen Seite müssen sie Empathie, Kontinuität, Echtheit, Zuwendung und viel Geduld gewährleisten – auf der anderen Seite müssen sie sich auch selbst abgrenzen, um weiter professionell Helfer sein zu können. Jeder Ein- und Abbruch ist auch eine Enttäuschung und emotionale Belastung für die Betreuer. Die Leitung muss stets sowohl das Kind im Blick haben als auch die Mitarbeiter aber auch das Wohl vom Rest der Gruppe.“ Der Knackpunkt sei, nicht zu früh aufzugeben aber auch nicht den Punkt zu überschreiten, intensivere Hilfen zum Schutz aller einzuleiten. Die erfahrene Pädagogin sieht vor allem in der frühzeitigen Intervention und Prävention die einzige Chance diesem Problem zu begegnen.

„Kein Kind kommt als Systemsprenger zur Welt. Vielmehr liegt eine Verkettung von zumeist frühkindlicher, traumatischer Ereignisse zugrunde. Erste Verhaltensauffälligkeiten zeigen sich meist bereits in der Kita und genau hier muss schon angesetzt werden“, beschreibt Hoffmann die schwierige Aufgabe, der sich die Kinder- und Jugendhilfe stellen muss.

„Kontextnahe Krisenintervention zwischen Kindeswohlgefährdung und Rückführung in die Familie sowie Hilfe für Familien in Krisensituationen mit einer Verknüpfung von ambulanter und stationärer Erziehungshilfe kann nur durch verzahnte Zusammenarbeit aller Akteuren gelingen“, so Hoffmann und verweist auf die gute Vernetzung in Mayen und die vertrauensvolle Zusammenarbeit mit dem Team des Mayener Jugendamtes.

Pressemitteilung der

Lebenshilfe Kreisvereinigung

Mayen-Koblenz e.V.