Eine Geschichte zu St. Martin
Sankt Martin und die Glaubensfrage
von Gregor Schürer
Ich bin unterwegs zu einer Lesung. Eine Buchhändlerin hat mich eingeladen, Geschichten zu Sankt Martin vorzutragen. Ich habe dazu ein kleines Büchlein verfasst und werde hin und wieder gebeten, daraus vorzulesen. Als ich am Veranstaltungsort ankomme, habe ich noch ein wenig Zeit. Ich parke in der Nähe des Ladens und setze mich in ein kleines Café gleich nebenan, um mich in Ruhe vorzubereiten und mir die ausgewählten Texte noch einmal anzuschauen. Draußen ist grauer November, aber hier drin ist es hell, warm und gemütlich. Die Bedienung bringt mir eine Trinkschokolade mit dick Sahne, obendrauf ist Kakaopulver gestreut, lecker.
Ich breite meine Manuskripte und Materialien auf dem Tisch aus und bin ganz darin vertieft, als mich jemand anspricht. Es ist eine ältere Dame, die fragt, ob sie sich zu mir setzen darf. Ich schaue mich um, das Lokal ist gut gefüllt und es gibt kaum noch Plätze. „Natürlich“, entgegne ich und deute auf den freien Stuhl. „Bitte entschuldigen Sie, dass ich mich hier so breit gemacht habe“, füge ich hinzu. Sie setzt sich, bestellt einen Cappuccino und lächelt mich an. „Was hat es denn mit dem ganzen Lesestoff auf sich?“, fragt sie und deutet auf meinen Papierstapel. „Ich bin zu einer Lesung eingeladen und wollte vorher alles nochmal durchgehen“, antworte ich wahrheitsgemäß. „Worum geht es denn?“ will mein Gegenüber wissen. „Die Geschichten handeln vom heiligen Martin“, kläre ich sie auf. „Wo haben Sie die denn alle gesammelt?“, ihre Neugier ist noch nicht gestillt. „Ich habe sie alle selbst geschrieben“, antworte ich. „Dann sitze ich also bei einem Schriftsteller am Tisch?“ „So könnte man sagen.“ bestätige ich.
„Darf ich Ihnen ein Geständnis machen?“ Diese Frage stellt man mir als Autor öfter, ich bin deshalb nicht überrascht. Aber neugierig schon. „Nur zu“ fordere ich die Dame auf.
„Ich bin Christin, das will ich vorausschicken. Also ist mir die Botschaft von Sankt Martin wohl bekannt. Helfen, Teilen, Erbarmen haben mit dem Nächsten. Aber wenn ich abends vor dem Fernseher die Tagesschau oder das heute-Journal schaue, weiß ich vor lauter schlechten Nachrichten nicht mehr, was ich glauben soll. Überall Krieg, Not, Elend, Katastrophen und mehr. Wo ist das Mitmenschliche geblieben, wo die Liebe und Achtung? Manchmal frage ich mich sogar, ob es den lieben Gott noch gibt.“ Sie sieht mich fragend an, ich schweige zunächst.
„Ich versuche es mal so“, beginne ich meine Antwort, „wenn Martin von Tours jetzt zur Tür hereinkäme und sie ihn genau das fragen würden, würde er wahrscheinlich so antworten: Ich habe dem Bettler geholfen, aus eigenem Antrieb. Aber ich kann nicht für andere handeln, auch nicht für dich. Also tue Du selbst das, was Du tun kannst und schaue nicht auf andere. Tausend kleine Dinge sind oft besser als ein großes. Und wenn viele etwas Gutes tun, kommt viel Gutes dabei heraus. Helfe in deiner Umgebung, so gut Du es vermagst. Wenn das alle machen, ist die Welt besser, als sie es vorher war.“
„Hm“, brummt sie nachdenklich.
„Aus eigener Erfahrung steuere ich noch ein winziges Beispiel bei“, ergänze ich. „Als ich eben mein Auto einparken wollte, war die Lücke ziemlich eng. Ein freundlicher Passant hat mich eingewunken, einfach so. Oder schauen Sie da“, ich deute zur Tür, wo eine Frau mit Kinderwagen gerade das Café verlassen will, ein Mann am Nebentisch aufsteht und ihr die Türe aufhält, „all das sind kleine Gesten der Nächstenliebe. Ich kenne jedenfalls viele hilfsbereite Menschen in meiner Nachbarschaft, meinem Umfeld und meinem Freundeskreis. Es muss nicht immer gleich der Friedensnobelpreis sein.“
Sie nickt. „Eine letzte Frage habe ich jetzt aber noch.“ „Die wäre?“ „Wo ist denn nachher Ihre Lesung, ich bin gespannt, was sie noch so auf Lager haben.“
SCHÜ
