Eine Weihnachtsgeschichte von Gregor Schürer
Kind, der Baum nadelt
Sie sitzt neben dem Weihnachtsbaum, als ich ins Zimmer komme. Im bequemen Ohrensessel, eine Decke auf dem Schoß. Täusche ich mich oder ist sie eingenickt? Der Baum steht auf dem Beistelltisch, ich habe ihn gestern aufgebaut. Leise schließe ich die Tür, bleibe regungslos stehen und betrachte das friedliche Bild. Draußen ist es schon dunkel und so wirken die Lämpchen, die in den Ästen des Baumes leuchten, besonders schön. Da dreht sie langsam den Kopf. „Guten Abend, Mutter. Wie geht es dir heute?“ „Gut“, antwortet sie einsilbig. „Ein schönes Plätzchen hast Du, hier beim Bäumchen“, versuche ich sie aufzumuntern. „Ja, das stimmt. Aber er nadelt schon.“ „Das kann doch gar nicht sein, Mutter. Wir haben ihn doch gerade erst aufgestellt.“ „Wenn Du meinst“.
Tags darauf erwartet sie mich schon, als ich komme. Statt einer Begrüßung sagt sie: „Kind, der Baum nadelt.“ „Hallo Mutter. Dann lass mich mal schauen.“ Ich sehe nach und antworte. „Alles in Ordnung, mach dir keine Gedanken.“ Um sie auf andere zu bringen, frage ich: „Hattet ihr eigentlich auch einen Weihnachtsbaum, als Du Kind warst?“ „Ja, natürlich“, ihre Augen funkeln, wie sie es nur noch selten tun.
„Einen großen, fast drei Meter hoch, weil wir so hohe Räume hatten. Man musste zum Schmücken auf eine Leiter steigen und doch kam man kaum an die oberen Äste. Die Christbaumspitze haben wir deshalb immer schon dran gemacht, bevor wir den Baum aufgestellt haben. Geschenke gab es nicht so viel wie heute, aber der Baum war immer stattlich.“
Am nächsten Tag will ich von ihr wissen, was sie denn als Kind geschenkt bekommen hat. Auch daran erinnert sie sich sofort: „Es gab vor allem Süßigkeiten, die bekam man ja sonst das ganze Jahr nicht. Lebkuchen, die hat meine Mutter Wochen vorher gebacken und versteckt. Und Zuckerstangen, später auch Marzipan.“ Ich habe Marzipankartoffel dabei und wir essen sie gemeinsam. Als ich aufbrechen will, sagt sie: „Kind, der Baum nadelt. Vielleicht braucht er etwas Wasser.“
Beim folgenden Besuch komme ich auf die Geschenke zurück. „Was lag denn unter dem Weihnachtsbaum, als Du klein warst, Mutter?“ „Mein schönstes Geschenk war eine Puppe, die ich als kleines Mädchen bekommen habe. Sie hieß Frida und hatte so schöne Augen. Wie Du, mein Kind, Du hast auch so schöne Augen.“ Ich muss fast weinen und sage schnell: „Ach Mutter...“ Sie lächelt und fährt fort: „Das sieht auch schön aus“, sie zeigt auf das Lametta am Baum. „Vielleicht haben wir zu viel davon drangehängt und der Baum nadelt deshalb?“
Ich erzähle ihr nicht, wie schwer es war, die dünnen Metallstreifen zu besorgen, die seit Jahren nicht mehr hergestellt werden.
Am darauffolgenden Tag kommt sie von ganz alleine noch einmal auf die Puppen zu sprechen, ich staune. „Als ich meine Frida hatte, bekam ich zu den Geburtstagen und zu anderen Anlässen Kleidchen für sie. Meine Mutter hat sie selbst genäht. Im Krieg war es dann schwer mit Geschenken. Deshalb war die Freude besonders groß, als ich nach Jahren einen Puppenwagen unter dem Weihnachtsbaum fand. Unser Baum hat allerdings nie so genadelt wie dieser hier.“
Das Christfest ist da, ich klopfe an ihrer Tür. „Herein“, ruft Mutter. Ich atme durch und betrete mit einem: „Ich wünsch dir frohe Weihnachten Mutter.“ das Zimmer. Sie sitzt ein wenig verloren im Sessel. Klein und zierlich ist sie geworden, denke ich. Ich sitze sonst mindestens eine Armlänge entfernt von ihr, sie mag Nähe nicht so sehr. Heute rücke mit meinem Stuhl ganz dicht an sie heran. „ Schau mal, was ich dir mitgebracht habe.“ Ich überreiche ihr ein Paket. Sie braucht ziemlich lange, es auszupacken. „Eine Puppe, was soll ich denn mit einer Puppe?“ Sie schaut mich ratlos an. Ich schaue ebenso ratlos zurück und frage, um die Situation zu retten: „Wollen wir zusammen ein Weihnachtslied singen?“ Sie freut sich und wir stimmen gemeinsam „Oh Tannenbaum“ an. Ihre Stimme ist noch kräftig und schöner als meine, geht mir durch den Kopf.
„Da bist Du ja, Kind“, Mutter begrüßt mich beim ersten Besuch im neuen Jahr. „Setz dich, was gibt es Neues?“ „Ach, nichts Besonderes“, antworte ich. „Heute musst Du aber den Baum abbauen, Kind. Er nadelt ganz furchtbar.“ Es klopft. „Guten Tag Frau Müller“, der Pfleger betritt schwungvoll den Raum. „Ich wollte sie zur Physiotherapie abholen“. Mutter springt fast auf, ich staune, wie behände sie plötzlich ist. Sie hakt sich bei Lutz, so heißt der gutaussehende junge Mann, ein und verlässt das Zimmer, ohne sich umzublicken.
Ich gehe zum Schrank und hole den großen Karton heraus. Dann nehme ich den Baum vom Beistelltisch und stelle ihn auf den Boden. Erst entferne ich den Schmuck, wegen des Lamettas geht das nicht so schnell. Aber die Therapie dauert, ich habe Zeit. Als alle Kugeln, Figuren und auch die Lichter entfernt sind, steht das Bäumchen ganz in grün vor mir. Ich ziehe die kleineren Äste aus dem Stamm, dann falte ich den Baum zusammen, fast wie einen Regenschirm. Ich lege alle Plastikteile in die Kiste, dazu den metallenen Ständer. Aufkehren muss ich nur ein paar silbern schimmernde Fäden.
SCHÜ
