Ehemalige Obstannahmestelle in Kärlich abgerissen
Als Kärlich noch das Ziel von über 200 Obstanbauern der Region war
Zwei Zeitzeugen berichten über ihre Tätigkeit in der Blütezeit des Schattenmorellen-Anbaus

Kärlich. Der Raiffeisenplatz in Kärlich verändert derzeit sein Aussehen. Seit einigen Tagen finden vor Ort Abriss-Arbeiten statt: Das ehemalige Gebäude der Volksbank Mülheim-Kärlich weicht einem Neubau, der die Bezeichnung Raiffeisenquartier erhalten wird. Insgesamt 28 Mietwohnungen, eine Selbstbedienungsfiliale der Volksbank RheinAhrEifel eG sowie eine Gewerbefläche für eine Bäckerei werden dem Bereich ein völlig neues Aussehen geben. In der vergangenen Woche wurde die seit einigen Jahren leerstehende Obstannahmestelle abgerissen. In dieser Woche folgt das Verwaltungsgebäude. Wenige Tage vor dem Anrücken der Bagger hatte „BLICK aktuell“ mit freundlicher Unterstützung der Volksbank die Gelegenheit, ein letztes Mal vor Ort mit zwei Zeitzeugen über die einst wichtige Bedeutung der Sammelstelle für Obst zu sprechen.
„Mir han de deckste Kirsche“, heißt der bekannte Text des Mülheim-Kärlicher Heimatliedes. Nicht nur Kirschen, sondern unterschiedlichste Arten von Obst wurden einst in großen Mengen an zentralen Standorten gesammelt und sodann an die Großabnehmer weitergeleitet. Nach dem die Versteigerung des Obstes in Mülheim und Kärlich zunächst auf freien Plätzen durchgeführt wurde, nutzte man in späteren Jahren hierzu auch Hallen. Die „Alte Gemeindehalle“ in der Burgstraße erwies sich Ende der 50´er Jahre hierfür als zu klein. Aus diesem Grunde wurde von der damaligen Raiffeisenbank Kärlich wenige Meter entfernt eine neue Halle errichtet. Für rund 200.000 DM (damals eine beachtliche Summe) wurde eine rund 400qm große Halle errichtet, die damals allen Anfordernissen entsprach.
Bei der Eröffnung der „Raiffeisenhalle“ Anfang der 60´er Jahre stellte der damalige Kärlicher Bürgermeister Neckenig fest, dass rund 85 bis 90 Prozent der Bevölkerung am Obstanbau beteiligt waren. Überwiegend handelte es sich um Nebenerwerbs-Anbauer. Im Laufe der Jahrzehnte hat sich dies bekanntlich geändert.
Gut erinnern an die damalige Zeit kann sich Else Rössler. Sie begann im Jahre 1950 ihre berufliche Tätigkeit. Ergänzend zum normalen Bankgeschäft war sie in den Sommerwochen auch bei der Abwicklung der Obstannahme tätig. „Urlaub war dann natürlich nicht möglich. Es wurde jeden Wochentag gearbeitet, auch samstags vormittags. Und sonntags ab 12 Uhr war auch Annahme. Ich brauchte mir damals kein Sommerkleid zu kaufen“, berichtet die sympathische Kärlicherin mit einem Lächeln. Else Rössler kann sich auch noch an die Zeit erinnern, als Erdbeeren und Himbeeren angeliefert wurden. „Die Menschen kamen nicht nur mit Traktoren, sondern vor allen mit ihren Handwagen und standen Schlange. Das kann man sich heute gar nicht mehr vorstellen“, so Else Rössler. Gut in Erinnerung sind ihr auch noch die Händler: „Die standen wie eine Traube um die Versteigerungsuhr“, berichtet die Kärlicherin, die für Schreib- und Rechenarbeiten zuständig war.
Werner Haak begann am 1. Oktober 1973 seinen Dienst und blickt auf eine 45-jährige Tätigkeit zurück. Er erlebte sowohl die Blütezeit des Schattenmorellen-Anbaus als auch dessen Niedergang. „Auf einen LKW konnte man ca. 1.300 Kisten Schattenmorellen transportieren. An guten Tagen wurden hier in Kärlich zwei bis drei LKWs mit Schattenmorellen gefüllt“, berichtet er stolz über die Zeit, in welcher es den Erzeugergroßmarkt Koblenz gab. Als die Sammelstelle in Kärlich vor vier Jahren geschlossen wurde, seien nur noch ganz wenige Schattenmorellen angeliefert worden. Aktuell spielt sie überhaupt keine Rolle mehr.
Zu Beginn seiner beruflichen Tätigkeit in den 70er Jahren gab es über zehn Obstannahmestellen in der Umgebung. Deren Anzahl habe sich über die Jahre schließlich auf Rübenach, Mülheim, Kärlich und Kettig reduziert. Zuletzt blieb nur noch Kärlich übrig. Zu Spitzenzeiten haben über 200 Erzeuger ihre Waren an der Sammelstelle angeliefert. Eine Zahl, die wohl nie mehr erreicht wird. Wie sieht der Obstanbau aktuelle aus? „Wer heute Obst anliefert, muss ein zertifizierter Betrieb sein. Das kann auch ein Hobby-Bauer sein. Aber das, was er im Feld macht, wird genauestens überprüft. Er bekommt jedes Jahr ein oder zwei Kontrollen. Er kann dann seine Kirschen nach Voranmeldung in die jetzige Halle bringen, die angemietet ist. Die komplette Abwicklung läuft über die Erzeugernossenschaft Landgars“, berichtet Werner Haak.
Und mit welchen Gefühlen sieht Else Rössler die Baustelle des Raiffeisen-Quartiers? „Ich war hier 40 Jahre tätig. Wenn man hier vorbei geht, gehen die Augen natürlich immer noch in die Richtung“, so die rüstige Seniorin.
Und Werner Haak ergänzt: „Es war eine andere Zeit. Diese Zeit ist vorbei. Es gibt heute kaum noch junge Menschen, die am Wochenende bereit sind, ihre Freizeit auf bzw. an den Kirschbäumen zu verbringen. Die machen lieber in der Woche über ein paar Überstunden“, meint der langjährige Mitarbeiter der Volksbank Mülheim-Kärlich.
Dass der Obstanbau am Raiffeisenplatz bzw. zukünftigen Raiffeisenquartier nicht ganz in Vergessenheit gerät, dafür ist bereits gesorgt: Die Kärlicher Historien-Säule, die bis vor wenigen Wochen am Kreuzungsbereich stand, hat am naheliegenden Schlossplatz einen neuen Standort erhalten. Auf der Säule sind selbstverständlich auch die „decksten Kirschen“ von Mülheim-Kärlich sichtbar. Mit der Fertigstellung des Raiffeisenquartiers rechnen die Verantwortlichen im Jahr 2023.

BLICK aktuell-Reporterin Katja Gaebelein besuchte mit Werner Haak und Else Rössler vor wenigen Tagen ein letztes Mal die ehemalige Obstannahmestelle.

Viele Jahrzehnte befand sich am Raiffeisenplatz die Obstannahmestelle für Mülheim-Kärlich und umliegende Kommunen.

Platz für Neues: In der vergangenen Woche wurde die ehemalige Obstannahmestelle in Kärlich abgerissen. Dort entsteht bis zum Jahr 2023 das Raiffeisenquartier.