Eine Geschichte zu Sankt Martin in Corona-Zeiten
Sankt Martin kommt trotz Pandemie
Als Lennart am Donnerstagabend aus dem Büro heimkommt, hört er draußen vor der Haustür schon das Weinen. Rasch schließt er auf und hängt den durchweichten Mantel an die Garderobe - natürlich hat es an dem kühlen Novemberabend mal wieder so stark geregnet, dass er auf dem kurzen Weg vom Bahnhof nach Hause trotz Schirm ziemlich feucht geworden ist. Auch die nassen Schuhe streift er schnell ab, schlüpft in die Pantoffeln und macht sich auf die Suche nach der Quelle des Heulens. Es ist seine Tochter Helena, das hat er sich schon gedacht. Die Fünfjährige sitzt im Wohnzimmer auf dem Sofa und flennt hemmungslos vor sich hin. Gerade als er sagen will „Was ist denn los, meine Süße?“, kommt seine Frau Linda aus der Küche, in der Hand eine Tasse mit dampfendem Inhalt. „Hier mein Schätzchen, ich hab dir zum Trost einen Kakao gemacht.“ „Den könnte ich auch brauchen, so ein Mistwetter“, sagt Lennart und strahlt seine Liebste an. „Na dann hol ich dir auch mal eine Tasse“, sagt sie und lächelt ihn an. Als sie mit einer weiteren Tasse heißer Schokolade zurückkommt, hat sich der Vater schon neben die weinende Tochter gesetzt und fragt: „Was gibt es denn so Schlimmes?“ Linda setzte sich dazu und Helena beginnt zu erzählen: „Also Papa, also Mama“ – wichtige Sätze beginnt das blonde Mädchen immer mit einem „also“ – „ihr wisst ja, dass wir im Kindergarten seit ein paar Tagen an unseren Laternen gebastelt haben.“ „Ja, ganz schöne mit einem Bärengesicht, weil ihr ja die Bärengruppe seid“, bestätigt die Mutter. „Und heute, wo wir gerade fertig geworden sind damit, kommt Frau Rheineck und sagt, dass der Martinsumzug dieses Jahr leider ausfallen muss…“
In diesem Moment kommt ihr großer Bruder Hagen ins Zimmer gestürmt. Wobei groß übertrieben ist, er ist zwar fast drei Jahre älter, aber nur einen halben Kopf länger als seine kleine Schwester. Und ruft, nein brüllt eher, es hört sich ein wenig wie der Schlachtgesang eines Fußballfans an: „Scheiß Corona, scheiß Corona!“.
„Na, na…“ tadelt der Vater, „was sind das denn für Töne?“ „Ach Papa, das ist doch großer Mist, dass wegen dem Virus nun alles abgesagt wird, auch das Martinsspiel im Schulhof, wo gezeigt wird, wie der Mantel für den armen Bettler geteilt wird.“ „Kann es sein, dass Du nur sauer bist, weil es deshalb auch keinen Martinsweck gibt?“ neckt ihn die Mutter. „Gut, dass ich heute selbst welche gebacken habe – und die verspeisen wir nun zum Abendbrot. Auf geht´s, meine Dreierbande, ab ins Esszimmer!“
Später bringt Lennart Helena und Hagen ins Bett und kommt dabei noch einmal auf den Grund für die Tränen und die Wut zurück: „Ihr habt ja schon gemerkt, Kinder, dass dieses Jahr alles ein bisschen anders ist als sonst. Covid 19 hat dafür gesorgt, dass zeitweise gar kein Kindergarten und auch keine Schule war. Und im Sommerurlaub sind wir nicht wie sonst nach Italien an den Gardasee, sondern nach Hessen an den Edersee gefahren. Und jetzt hat es eben auch noch den Sankt Martin erwischt. Aber wir müssen und wollen das Beste daraus machen, bringt morgen, am Freitag, eure Fackeln, die ihr gebastelt habt, mit nach Hause und dann schauen wir mal. Und jetzt schlaft schön…“
Am nächsten Tag macht Lennart extra eine Stunde früher Feierabend und geht auf dem Weg vom Arbeitsplatz zum Bahnhof noch auf einen Sprung in ein nahe gelegenes Spielwarengeschäft. Gott sei Dank hat man dort den von ihm gewünschten Artikel vorrätig, er lässt ihn in dickes braunes Papier verpacken und beeilt sich, nach Hause zu kommen.
Dort wartet schon seine Frau auf ihn. Gemeinsam bugsierten sie die Kinder mit ihren Laternen nach draußen in den kleinen Garten, der sich hinter dem Reihenhaus befand, das die Familie Rheineck bewohnte. Dort müssen sie warten. Lennart streift sich einen Umhang über, den Linda tagsüber aus einem alten roten Vorhangstoff Umhang genäht hat. Seine Frau schmunzelt, als er sich den mit Alufolie umwickelten Fahrradhelm auf den Kopf setzt. Und sie lacht lauthals, als er das Paket auswickelt. Darin befindet sich ein hölzernes Steckenpferd. Linda öffnet die Balkontür und Lennart alias Martin reitet auf seinem Pferd hinaus auf die Terrasse. „So, jetzt geht unser eigener Martinszug los“, ruft er, „reiht euch hinter mir ein. Und die Mama hat ein Blatt mit dem passenden Martinslied, ich habe den Text etwas abgeändert.“ Helena und Hagen stellen sich hinter dem berittenen Papa auf und los geht´s. Dreimal, viermal und fünfmal zieht der kleine Martinszug über den Rasen, vorneweg der große Mann auf seinem kleinen Pferd, dahinter die Kinder mit ihren Laternen. Und dabei singen sie ein ganz spezielles Martinslied, es geht so:
Sankt Martin, Sankt Martin, Sankt Martin ritt in unsern Hof,
auch er findet Corona doof,
und hat er bloß ein Pferd aus Holz,
das ist egal und wir sind stolz.
Sankt Martin, Sankt Martin, Sankt Martin kam auch dieses Jahr,
das freut uns, das ist wunderbar,
der heilige Mann, er fehlt ja nie,
auch nicht in dieser Pandemie.
Als das Lied zu Ende gesungen ist, fragt Helena: „Und was essen wir jetzt statt dem Weckmann, den gab es ja schon gestern?“ Da deutet ihre Mutter auf den ausgehöhlten Hokkaido, der am Rande der Terrasse steht und die Szenerie durch die Kerze in seinem Innern in ein zuckendes Licht taucht: „Kürbissuppe!“ „Lecker“, antwortet Lennart und läuft im Galopp auf seinem Steckenpferd hinein ins Haus Richtung Küche und die ebenso glücklichen wie hungrigen Kinder samt ihrer Mutter hinterher. SCHÜ