Wilfried Freischem aus Ahrbrück verarbeitet seine Erlebnisse nach der Flut in einer Kurzgeschichte

„Wir können nicht fassen, was kaum zu fassen ist“

„Wir können nicht fassen, was kaum zu fassen ist“

Zerstörte Häuser nach der Flut.Foto: privat

„Wir können nicht fassen, was kaum zu fassen ist“

In Ahrbrück wurde ein Klavier angeschwemmt. Foto: privat

Ahrbrück. Wie viele andere auch, wollte ich helfen. Aber Schaufel und Hacke bevorzugen doch eher junge Männer. Mit dem Auftrag, eine Seniorin in ärztliche Behandlung zu bringen, wurde ich einfach in eine rote Weste gesteckt.

„Können wir nicht weiter gehen? Ich muss doch zum Doktor.“ Die Melodie der leisen, ja zarten Stimme neben mir, ruft mich aus der Ferne meiner Gedanken zurück, zurück in die apokalyptische Wirklichkeit, in die lichte Finsternis des zweiten Tages nach der Ahrflut. Untergehakt, in meinen Arm, eine kleine, zierliche Frau, deren Habitus ungeachtet ihrer Jahre und ungeachtet des in der Flutnacht erlebtem immer noch anmutig ist.

Vor mir, aus dem ölig schillerndem Schlamm des Ahrufers grinst mich das schmutzige Manual eines von den Wassermassen mitgerissenem Klavier an. Die Flutwelle wird es wohl von irgendwo her mitgenommen haben und hat ihr eigenes, grausames Lied von Tod, Zerstören und Verderben in die Tastatur gehämmert. „Gehen wir jetzt?“. Da ist sie wieder, diese Melodie, leise, aber bestimmt. Und dann gehen wir, Schritt für Schritt, eigentlich sind es nur mühsame kleine Schrittchen immer wieder saugt sich der giftige und übel riechende Schlamm an den viel zu großen Gummistiefeln meiner Begleiterin fest. Aber mit jedem Schrittchen kommen wir dem Arzt näher, auch seine Praxis wurde nicht von den Fluten verschont und jetzt praktiziert er in der Denntalschule.

Über uns, auf der Suche nach Ihren Nestern, irren Schwalben mit ihren schrillen Schreien durch die schmale Straße, vergebens. Die Flutwelle hat ihre lehmigen Brutstätten mitgerissen und den Hausgiebel gleich mit.

Immer wieder drängen uns schwere Traktoren an das verbogene Straßengeländer, das von Bäumen, Fahrrädern und allem was so eine Zivilisation hergibt durchflochten ist. Unter uns feixt die in allen Spektralfarben schillernde Ahr. Die Traktoren, wahre Boliden unserer Landwirte, eigentlich gebaut und konstruiert, um sich am Horizont weiter Felder und Äcker zu verlieren. Jetzt ziehen sie stählerne Hänger, hoch beladen mit Schlamm, zertrümmerten Möbeln, Lebensträumen und Erinnerungen. Dahin, all die Zeugnisse vergangener Generationen, alles hat die Flut zerschlagen und was sie nicht zerschlagen konnte, das hat ihr giftiger Schlamm besorgt.

Es ist noch in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli, keiner kann so richtig fassen, was kaum zu fassen ist. Eine Jahrhundert-Flut hat den Westen von Deutschland heimgesucht. Und während das Management noch dasitzt und auf nie Dagewesenes starrt, da rollen schon die ersten Traktoren aus dem ganzen Land über die wenigen, noch befahrbaren Straße ins Ahrtal, bewaffnet mit Räumschilden, Kettensägen, Greifarmen und schwerem Gerät. Grauer Ahrschiefer wirft das Echo röhrender Motoren in die verwüsteten Täler. Wir kommen, wir helfen euch! Unsere Landwirte, unser Bauern, die reden nicht, die handeln, die sind einfach so.

Meine zierliche Begleiterin erzählt mir, wie sie in der ersten Etage im Haus ihres Sohnes die Flutnacht erlebt hat, wie das Wasser stieg und stieg, wie sich ihr Sohn zu ihr in die erste Etage rettete. Kurz danach wurde eine Wand in der unteren Etage von den anrollenden Wassermassen eingedrückt. „Dann wirbelten da Autos, Wohnwagen, Bäume, ja ganze Häuser durch die tobenden, brüllenden Fluten. Wir haben überlebt. Mein Sohn will aber sein Haus nicht mehr aufbauen, der will weg, nur noch weg.“ Nach einer kleinen Pause. „Aber ich kann doch nicht.“Verstohlen wendet sie ihren Kopf von mir ab und wicht sich das Feucht aus den Augen. Ihre Generation weint doch nicht.

Still gehen wir weiter, nur der Schlamm, diese stinkenden Schleimmonster glitschen und saugen geräuschvoll an unseren Stiefeln. „Ich könnte ja noch eine rauchen,“ meint mein Schützling augenzwinkernd zu mir und zieht eine Packung Zigaretten aus ihrer kleinen Umhängetasche. „Nur noch drei,“ stellt sie bedauernd fest, „und beim Doktor werde ich ja wohl auch keine bekommen.“ und steckt die Packung wieder in ihr Täschchen. „Für heute Abend“, meint sie dann achselzuckend.

In der Denntalschule angekommen, bringe ich sie zu ihrem Doktor, gebe sie in vertraute, helfende Hände. Ich verabschiede mich von meiner so tapferen Gefährtin, Ein Helfer wird sie nach dem Arztbesuch nach Hause bringen, oder in dass, was von ihrem Zuhause übrig geblieben ist. Irgendwie komme ich mir jetzt auf dem langen Schulflur, wo ein reges kommen und gehen ist, verloren vor. Bis ein Caritas- Mitarbeiter meint, „setz dich doch zu den älteren Herrschaften an den großen Tisch, du spricht doch deren Sprache sprache.“ Was immer dieser junge Mann damit gemeint hat, ich setze mich zu ihnen.

Mir gegenüber sitzt ein Mann, seine Hände auf einem Gehstock gefaltet, neben ihm seine Frau die mit traurigen Augen unentwegt aus dem Fenster schaut. “Alles verloren“, murmelt sie vor sich hin, „Alles.“ Ihr Mann schaut sie liebevoll an und streichelt ihr zärtlich über ihren Arm. „Ja,“ meint der Mann zu seinem Nachbarn, auch einem Hochbetagten Ahrbrücker, „so war das in der Flutnacht. Wir hatten gedacht, dass ist wieder so ein Hochwasser wie wir schon so viele hier erlebt haben. Die Ahr wird die Nacht über tüchtig krakeelen, ein paar Schuppen mitreißen und Morgen hat sie sich wieder beruhigt. Als aber das Bett meiner Frau das schwimmen anfing, wussten wir, da kommt Schlimmes.“ Sein Nachbar, der hochbetagte Ahrbrücker, verzieht schalkhaft seinen Mund und meint, „du wolltest doch immer schon ein Wasserbett“. Jetzt muss auch die Frau lachen, hält aber verschämt die Hand vor ihren Mund, die Flut hat ihr noch nicht mal die Zahnprothese gelassen.

Dann ist da noch einer am Tisch, hört zu, hält aber seine rot entzündeten Augen geschlossen. Immer wieder tupft er vorsichtig mit einem kleinen Tuch über die Rötungen, blinzelt mir kurz zu und meint, „Das kommt vom ausgelaufenen Heizöl, ich konnte mich ja noch in die erste Etage retten, aber dann hat das Wasser den Tank zerdrückt. Das Öl, die Dämpfe beißen mir noch die Augen aus.“

Die, die da mit mir am Tisch sitzen, ahnen, dass ihre Häuser für lange Zeit nicht bewohnbar sind. Die Nacht werden sie wohl in der Schule verbringen. Irgendwann, es ist schon später Nachmittag, verabschiede ich mich, Mit einem Gefühl von Unsicherheit und Hilflosigkeit. Ich kann nach Hause, ich habe noch ein Zuhause.

Wilfried Freischem