Das Innenministerium hat Videoaufnahmen aus der Flutnacht veröffentlicht, die das Ausmaß der Katastrophe deutlich zeigen. Viele Menschen aus dem Ahrtal fragen sich: Warum wurde nicht eher gehandelt?

Bedrückt, fassungslos und traurig

Bedrückt, fassungslos und traurig

Auszug aus dem Video der Flutnacht, aufgenommen von der Besatzung eines Polizeihubschraubers. Foto: Polizei RLP

11.10.2022 - 08:50

Kreis Ahrweiler. Hätten in der tragischen Flutnacht mehr Menschen gerettet und die Todesopfer zumindest teilweise verhindert werden können? Diese Frage drängt sich nach der Betrachtung der Videos auf, die von der Besatzung eines Polizeihubschraubers aufgenommen und kürzlich von dem rheinland-pfälzischen Innenministerium für die Öffentlichkeit freigegeben wurden. Fragen wie diese stellen sich derzeit viele Menschen im Ahrtal. So wie Ulrich van Bebber, Vorsitzender der Lebenshilfe des Kreises Ahrweiler. Das Lebenshilfehaus in Sinzig erlangte nach der Flut traurige Berühmtheit. Zwölf Menschen starben hier in den Fluten. Und dies zu einem Zeitpunkt, nachdem die Flut die Orte der oberen und mittleren Ahr längst erfasst hatte. Für eine Evakuierung wäre eigentlich genug Zeit gewesen.


Ulrich van Bebber: Der Respekt gebietet eine Entschuldigung


„Ich bin erschüttert, wenn ich auf den Videos die armen Menschen sehe, die um ihr Leben kämpfen, und vergeblich auf die Hilfe durch den Hubschrauber hoffen. Das ist kaum zu ertragen“, sagt Ulrich van Bebber nach Betrachtung des Videomaterials. Kaum zu ertragen sei aber auch, dass nicht sofort weitere Sofortmaßnahmen eingeleitet wurden. Denn anscheinend blieben diese Bilder und diese Informationen ohne jegliche Konsequenz. „Das ist überhaupt nicht zu verstehen, es macht einen sehr betroffen, ja, wütend. Man hätte doch noch Zeit genug gehabt, zu warnen. Insbesondere auch das Lebenshilfehaus, das erst vier Stunden später überflutet wurde.“ Als Menschen mit Beeinträchtigungen seien die Bewohnerinnen und Bewohner des Lebenshilfehauses mehr als andere auf frühzeitige Warnungen und Hilfe von außen angewiesen, so van Bebber. Offizielle Richtlinien würden dies auch genau vorsehen. „Der „Rahmen Alarm- und Einsatzplan Hochwasser“ des Landes Rheinland-Pfalz schreibt bereits ab Warnstufe drei die vorrangige ´Unterstützung hilfsbedürftiger Personen bei der Räumung von gefährdeten Wohnungen´ vor“, fasst es van Bebber zusammen. Hier habe der Staat auf allen Ebenen versagt, von der Kreisebene bis zur Landesebene. Beschämend sei aber, wie sich die eigentlich Verantwortlichen gegenseitig die Schuld geben und sich hinter Zuständigkeiten verstecken. „Der Respekt vor den 134 verstorbenen Menschen gebietet es, dass sich auch die Politiker zu ihrer Verantwortung bekennen, und sich bei den Menschen entschuldigen. Niemand ist fehlerfrei, wenn aber Fehler gemacht wurden, muss man auch dazu stehen!“, sagt van Bebber.


Andreas Geron: Im Dunkeln und alleine gelassen


Deutliche Worte findet auch der Bürgermeister von Sinzig, Andreas Geron. Machtlos musste Geron mit ansehen, wie Teile seiner Heimatstadt von den Wassermassen zerstört wurden und teilt damit das Schicksal vieler an der Ahr. Doch die Flutwelle erreichte die Stadt an der Ahrmündung spät. So spät, das eine Warnung hätte stattfinden können. Doch sie blieb aus. Geron wundert sich, dass die Aufnahmen der Hubschrauberbesatzungen so lange brauchten, um an die Öffentlichkeit zu kommen. „Für mich als Bürgermeister der Stadt Sinzig ist es, trotz der entsprechenden Darlegung der Landesverwaltung, verwunderlich, dass die Aufnahmen des Polizeihubschraubers erst rund 14 Monate nach dem Ereignis bekannt wurden“, sagt Geron. „Die Aufnahmen sind erschütternd und spiegeln letztlich das wieder, was wir in Sinzig - auch ich persönlich - in der Nacht vom 14. auf den 15. Juli 2021 erleben mussten.“ Das allerdings Stunden nach dem Zeitpunkt der Aufnahmen. Für ihn sei es nicht nachvollziehbar, dass diese Aufnahmen nicht zu einer Meldekette bei den für den Katastrophenschutz zuständigen Landesbehörden geführt haben und nicht spätestens gegen Mitternacht in Sinzig konkrete Warnung vor einer nie dagewesenen Flutwelle verbreitet wurden, „sondern die Freiwillige Feuerwehr bei Ihren Warn- und Rettungsarbeiten im wahrsten Sinne des Wortes im Dunkeln und alleine gelassen wurde.“


Guido Orthen: Die Menschen wurden ihrem Schicksal überlassen


Auch in der Nachbarstadt Bad Neuenahr-Ahrweiler herrscht Sprachlosigkeit. Die Meinung, dass die Videoaufnahmen nicht ausdrücklich zeigen würden, dass Menschen um ihr Leben bangen, kann Bürgermeister Guido Orthen nicht begreifen.

„Wenn man die Videoaufnahmen sieht, die überfluteten Landstriche, Häuser, die bis zur Dachtraufe und teilweise darüber hinaus überflutet sind, Menschen, die aus Dachfenstern oder vom Dach mit Taschenlampen um Hilfe bitten, erkennt man die Situation der Menschen“, stellt er fest. „Ja, da kann man die lebensbedrohliche Lage der Menschen in dieser Nacht sehen!“ Umso unverständlicher sei es für ihn, dass nicht spätestens daraufhin Warn- und Meldeketten sowie breitere Unterstützung in Bewegung gekommen sei, die Menschen und die örtlichen Kräfte im Unterlauf der Ahr nicht gewarnt wurden, sondern ihrem Schicksal überlassen wurden. Orthen: „Das lässt einen bedrückt, fassungslos und traurig zurück.“


Jürgen Schwarzmann: Unverständliche Aussagen


Die Aufnahmen zeugen nicht nur von der verzweifelten Lage. Viele Ahrtaler erinnern sich bei der Betrachtung an die Flutnacht. So auch Jürgen Schwarzmann, Ortsbürgermeister von Hönningen an der Mittelahr. „Für mich, der selber zwölf Stunden mit acht anderen Menschen vom Wasser eingeschlossen im Kindergarten gesessen hat, wühlen die Videos natürlich die Erinnerung an die Nacht auf“, sagt Schwarzmann. Gerade bei den Mitmenschen, die Freunde oder Verwandte verloren, „wühlen die Bilder wieder das Unfassbare auf“. Dennoch ist sich auch der Ortsbürgermeister sicher, dass, wenn die Aufnahmen richtig gedeutet worden wären, gerade die Menschen am Ende des Laufes der Ahr hätten gerettet werden können. „Eine Aussage, dass auf den Fotos und Videos keine Katastrophe zu sehen sei, ist für mich unverständlich“, so Schwarzmann. Es sei jetzt aber wichtig, für die Zukunft eine bessere Kommunikation aufzubauen, damit in Zukunft besser gehandelt werden kann.


Jochen Seifert: „Blödsinnige Aussagen“ von Lewentz


Auch die Kreispolitiker haben zu den Videoaufnahmen deutliche Meinungen. So wie Jochen Seifert, Fraktionsvorsitzender der FWG im Kreistag. Laut Seifert hätten mehr Menschen gerettet werden können, und zwar schon dann, als die Hubschrauber über dem überfluteten Ahrtal kreisten. „Die Hubschrauberinsassen hätten nicht warten dürfen, sie hätten sofort Alarm schlagen müssen, als sie die Bilder aufgenommen haben“, ist er sich sicher. „Was man sieht, ist doch eindeutig! Die Strömung wird innerhalb der 20 Minuten deutlich stärker. Die Ahr steigt, dass sieht man im letzten Video, wo die Kamera circa drei Minuten auf das Haus zeigt“, schildert Seifert seine Eindrücke. In diesen Bildern könne man auch sehen, dass die Strömung stärker wird. Es hätte den Hubschrauberinsassen außerdem bewusst sein müssen, dass es sich hier um ein enges Tal handele und das Wasser in den meisten Bereichen sich nur nach oben ausdehnen kann, „weil die Topografie nun mal so ist“, wie Seifert sagt. „Anstatt sieben Minuten eine Häuserreihe mit dem Fenster aufzunehmen, hätte jemand im Hubschrauber sofort Alarm geben müssen! Und nicht an die Kreis-, Stadt- oder VG-Verwaltung, sondern an Polizei und ADD. Das wäre der richtige Weg gewesen, um Menschenleben zu retten.“ Auch zu dem Hin und Her bei den Zuständigkeiten hat Seifert eine eindeutige Meinung. „Die blödsinnige Aussage von Lewentz, dass die Kommunen zuständig sind, ist hier vollkommen fehl am Platz“, sagt der Kreispolitiker. „Weshalb waren die Hubschrauber denn da?“, fragt er und gibt sofort die Antwort. „Sie wurden von ´oben´ eingesetzt.“


Michael Korden: Versagen im Innenministerium


Michael Korden ist der Fraktionsvorsitzende der CDU im Kreistag Ahrweiler. „Im Nachgang zur Flutkatastrophe sind manche Sicherheiten und Vertrauen in die staatlichen Organisationen erschüttert worden“, zieht er ein Fazit. „Normalerweise sollte man davon ausgehen, dass die Aufnahmen und die Schlussfolgerungen schnellstmöglich an die zuständigen Stellen der Polizeipräsidien und dem übergeordneten Innenministerium weitergegeben und von dort aus unmittelbar Warn- und Rettungsmaßnahmen ergriffen werden.“ Warum dies nicht so war, sei noch nicht nachvollziehbar aufgeklärt worden. „Hierauf haben die Flutopfer allerdings ein Recht!“, sagt Korden. In jedem Fall läge ein Organisationsversagen im Zuständigkeitsbereich des Innenministeriums von Roger Lewentz vor. Entweder habe man bei der Weitergabe der Informationen fahrlässig versagt oder man habe auf Entscheidungsebene nicht oder falsch reagiert und entschieden. „Beides ist fatal! Bei richtigem Verhalten und richtigen Entscheidungen hätte es sicher noch Chancen gegeben, spätere Flutopfer in Bad Neuenahr-Ahrweiler und Sinzig rechtzeitig zu warnen“, sagt Michael Korden.


Markus Bleffert: Videos lassen Fragen aufkommen


Markus Bleffert lebt mit seiner Familie in Reimerzhoven, einem kleinen Ortsteil von Altenahr, der ebenfalls besonders hart von den Fluten getroffen wurde. Bleffert ist engagiert im Vereinswesen und arbeitet als Ehrenamtler im Vorstand des SV Altenahr mit. Bleffert hat sich die dramatischen Videos aus dem Polizeihubschrauber intensiv angeschaut. „Natürlich lassen diese Bilder Fragen aufkommen, warum hier von Seiten der Politik nicht reagiert wurde. Auch die Aussage des Präsidenten des Landesfeuerwehrverbandes, eine Evakuierung der Orte an der Ahr hätte zu mehr Toten geführt, muss kritisch hinterfragt und diskutiert werden“, findet er.

Aber: „Meiner Meinung nach muss ganz klar in die Zukunft geschaut werden. In Krisen sind auch Politiker überfordert - und gerade deshalb muss nach vorn geschaut werden und eine bessere Zukunft ermöglicht werden.“ Dies schließe einen besseren Katastrophenschutz und schnellere Warnungen mit ein. Die gleichen Fehler dürfen nicht nochmal passieren, ist er sich sicher. Damit wäre den Menschen bei uns im Ahrtal mehr geholfen, als mit Schuldzuweisungen, ist er sich sicher. „Denn der Blick muss in die Zukunft gerichtet werden - jetzt!“, fügt er hinzu.

ROB

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