Von falschen Staudämmen und Hilfskräften, die nicht abrücken

Ein Bürgermeister kämpft gegen Fake News

Ein Bürgermeister kämpft gegen Fake News

In seinem Notizbuch notiert Sinzigs Bürgermeister Andreas Geron einen Menge - auch die Dinge, die niemals passiert sind.

Sinzig. Bürgermeister Andreas Geron sitzt in seinem Büro, in seiner Hand ein aufgeschlagenes Buch. In diesem Kalender notiert er alles, was seit der Flutkatastrophe vom 14. und 15. Juli 2021 passiert ist – und was nicht. So wie die Steinbachtalsperre, die nicht gebrochen ist. Oder der Staudamm in Dernau, der brechen konnte, weil es ihn gar nicht gibt. Und die Hilfskräfte, die nicht abgezogen wurden. Gesprochen haben die Menschen über diese Nachrichten trotzdem, haben sie wahrgenommen und entsprechend reagiert. Im Fall des drohenden Bruchs der Steinbachtalsperre bedeutete dies Panik und Kofferpacken. Zu groß war die Angst vor einer neuen Welle, einer neuen Flut. Auch Gerons Familie packte ihre Sachen und war bereit zur Flucht. Doch woher stammte diese Information? Im Sinziger Beispiel fuhr ein Auto durch den Dreifaltigkeitsweg. Deren Insassen warnten per Megafon vor dem Bruch der Talsperre, die Fluten würden auch Sinzig erreichen, hieß es in der Durchsage. Über die Reaktion der Anwohner wundert sich Andreas Geron nicht.

„Schon die Flut war für uns alle unvorstellbar“, sagt er. „Es war also vorstellbar, dass sich erneut etwas Unvorstellbares ereignet.“ Seine eigene Familie konnte er erst von dem Fluchtgedanken abbringen, als er selber bei den entsprechenden Behörden Informationen erfragte und Klarheit bekam. Nein, die Steinbachtalsperre drohe nicht mehr zu brechen, hieß es da. Und selbst wenn: Der Stausee ist knapp 45 Kilometer von Sinzig entfernt und zahlreichen Abläufe würden dessen ausströmendes Wasser ableiten – aber mit sehr großer Wahrscheinlichkeit nicht ins Ahrtal. Eigentlich ist das auch logisch sagt Geron. Aber was war am 15. Juli schon logisch? „Die Menschen hatten das Vertrauen in die Naturgesetze verloren“, ist sich Geron sicher.

„Ich habe Menschen in Panik gesehen“

So verständlich die Panik auch war, umso unverständlicher ist für den Bürgermeister die Motivation, sich in ein Auto zu setzen und Falschmeldungen via Megafon zu verbreiten. „Ich kann mir die Idee dahinter nicht vorstellen,“ so der Sinziger Bürgermeister. „Dafür fehlt mir einfach die Fantasie.“ Einziges Ziel kann gewesen sein, Panik zu streuen. Davon zeugt auch das Flugblatt, dass jemand auf Gerons Türschwelle legte. Auch hier hieß es: Die Steinbachtalsperre bricht. Ein Autor oder gar ein Impressum fehlte auf dem Flyer, was an sich übrigens schon eine Straftat darstellt. Auch den Menschen im Auto, die mit ihren Durchsagen vor dem vermeintlichen Bruch der Talsperre warnten, wurde man nicht habhaft. Somit sind die Angstmacher über alle Berge. Nur die Schreck blieb zurück. Das gelang: „Ich habe Menschen in Panik schreien gesehen“, sagte Geron bei einem öffentlichen Auftritt vor wenigen Wochen über den Tag, als die Koffer gepackt wurden. Wo immer es möglich ist, nutzt er die Öffentlichkeit um immer wieder auf die Gefährlichkeit der gezielten Lügen hinzuweisen. Im Nachgang der Flut gab es davon eine Menge. So wie jener Fake, dass in Dernau ein Staudamm zu brechen drohe. Das war kurz nach dem Flutdonnerstag. Den Fakt, dass es in Dernau gar keinen Staudamm gibt, blendeten viele Menschen nach dem Horror der Hochwassernacht aus, ein absolut menschliche Reaktion, wie Geron findet. Doch das wissen auch die Verbreiter von Fake News und nutzen dies perfide aus.

Neben dem falschen Staudamm aus Dernau trieben die Falschnachrichten weitere Blüten bis ins Absurde. Geron erinnert sich an die Geschichten über Kinderleichen im Keller einer Grundschule in Ahrweiler, angebliche Opfer von misslungenen Tests mit Coronaimpfstoffen. Die Grenze zwischen gut gemachter Falschinformation und hanebüchener Verschwörungstheorie sei manchmal fließend, stellt er fest.

Eine Pseudomeinung wird zur Mehrheitsmeinung

Eine entscheidende Rolle haben laut Geron die Sozialen Medien, wenn es um die Verbreitung von Gerüchten geht. „Ein Thema wie ein Staudammbruch wird viel öfter geklickt und geteilt als eine Information, die besagt, dass die Versorgungssituation gesichert sei,“ sagt der Bürgermeister. Doch ersteres bindet im Rathaus unglaubliche Kräfte. „Dutzende Menschen haben angerufen, ob dass den wirklich stimmt“, blickt er zurück. Somit hatten die Fake News eine echte Schadwirkung. Schließlich konnten die Verwaltungsmitarbeiter nicht mehr ihrer eigentlichen Arbeit nachgehen.

Ein weiteres großes Thema, dass Geron beschäftigte, war das Gerücht, dass Hilfskräfte abgezogen werden. Als THW-Mitarbeiter ihre Gerätschaften einpackten um an einer anderen Stelle weiterzuhelfen, wurde das gleich als Totalabzug gewertet und gleich in den Sozialen Medien wider besseren Wissens publik gemacht. „Da wird eine Pseudomeinung schnell zur Mehrheitsmeinung“, sagt Geron, der in der Folge für den Abzug persönlich verantwortlich gemacht wurde. „Dabei ist doch völlig klar, dass ich als Bürgermeister nicht das THW oder die Bundeswehr befehligen kann“, weiß er. Andreas Geron wurde dabei auch persönlich beschimpft, auf offener Straße. Zwar konnte er in dieser Situation Aufklärungsarbeit leisten. Aber das sind Dinge, die Zeit kosten, und Kraft. Doch beides ist angesichts einer niemals dagewesenen Katastrophe Mangelware. Der Abzug von Helfern waren nur einige der Punkte von Falschnachrichten. Übrigens war nicht nur in Sinzig der Abzug von Unterstützern ein Thema. Auch in Bad Neuenahr-Ahrweiler machte das Gerücht die Runde. Weiterhin beschäftigte die Stadt Sinzig, dass die Essensausgaben geschlossen werden oder komplette Garten ausgehoben werden müssen, da der Flutschlamm hochgradig verseucht wäre. Beides stimmte nicht.

Geht es darum, Fake News zu bekämpfen, hat Andreas Geron eine Idee. „Wir brauchen als Kommunen einen offiziellen Kanal, auch auf den Sozialen Medien“. Das soll ein Kanal sein, dem Menschen vertrauen können, und zwar immer. Und weiter: „Wenn ein solches Gerücht im Raum steht, ist es auch unsere Aufgabe, hinzugehen, und mit den Menschen direkt zu sprechen“, sagt Geron. „Nur so könne es Vertrauen geben – gerade in der Krise.“ ROB