Verantwortliche der Kreisstadt zogen Bilanz, beleuchteten den Ist-Zustand und blickten voraus

Ein Jahr nach der Flut: Wo stehen wir? Was muss geschehen?

Guido Orthen: „Wir sind immer noch in einer Phase der Provisorien“

Ein Jahr nach der Flut:
Wo stehen wir? Was muss geschehen?

Ein Jahr nach der Flut – Wo stehen wir? Was muss geschehen? Diese Fragen beantworteten von links Alfred Bach (Stadtverwaltung), Peter Diewald (erster Beigeordneter), Bürgermeister Guido Orthen und Jörn Kampmann (Stadtverwaltung). Foto: DU

10.07.2022 - 15:47

Bad Neuenahr-Ahrweiler. Der Jahrestag der Flut im Ahrtal – er bietet neben dem Gedenken an die vielen Opfer der Katastrophe nicht nur die Gelegenheit zurückzublicken, sondern auch den Ist-Zustand zu beleuchten. Dies tat jetzt auch die Stadt Bad Neuenahr-Ahrweiler im Rahmen des Pressegesprächs „Ein Jahr nach der Flut – wo stehen wir? Was muss geschehen?“ Fakt ist – auch die Kreisstadt wurde von der Flut hart getroffen. Insgesamt 69 Todesopfer waren hier zu beklagen, hinzu kamen hunderte Verletzte und massive Zerstörungen. 5.000 Gebäude in Bad Neuenahr-Ahrweiler waren direkt betroffen, davon 100 städtische Liegenschaften. 18.000 Menschen in über 10.000 Haushalten waren und sind von den Folgen der Katastrophe betroffen. Hinzu kommen unter anderem acht zerstörte Kindertagesstätten (von insgesamt zwölf), wodurch 665 Kita-Plätze wegfielen. Auch drei städtische Schulen, sieben von acht Sportstätten sowie 18 von 35 Spielplätzen wurden zum Teil schwer beschädigt bis völlig zerstört.


Zeichen der Hoffnung


Doch es gibt Hoffnung und viele Zeichen positiver Entwicklung. Bis auf vier stehen alle Spielplätze wieder zur Verfügung, am Apollinarisstadion haben entsprechende Sanierungsarbeiten längst begonnen und mit der soeben erfolgten Wiedereröffnung des Freibades in Ahrweiler steht – zumindest während der Sommermonate – wieder ein Schwimmbad zur Verfügung. Die zerstörte Wasserversorgung war, auch dank interkommunaler Hilfe, nach drei Wochen zu 95 Prozent wiederhergestellt. Die Rückkehr der Gasversorgung erfolgte hingegen erst im Dezember. Von den Beschädigungen des Stromnetzes waren über 20.000 Haushalte betroffen, hier war ab dem 19. August 2021 wieder eine vollständige Versorgung sichergestellt. Zerstört wurden auch 16 städtische Brücken, erste neue Behelfsbrücke war drei Wochen nach der Flut die Landgrafenbrücke, weitere Behelfsbrücken folgten.


Bevölkerungsrückgang in der Kreisstadt


Doch, daran ließ Bürgermeister Guido Orthen keine Zweifel – vieles hat immer noch provisorischen Charakter. „Wir sind immer noch in einer Phase der Provisorien. Zwar wurde, auch mit der großen Hilfe von außen, schon viel geschafft, doch die Situation in den privaten Haushalten stellt sich sehr unterschiedlich dar. Manches ist schon komplett saniert, andere leben noch in Not- und Ausweichquartieren wie beispielsweise den Tiny Houses“, so Orthen, der einen Nach-Flut-Bevölkerungsrückgang der Kreisstadt von sieben Prozent auf jetzt 27.150 Einwohner vermeldete und auch auf die Stimmung bei den Bürgerinnen und Bürgern einging: „Es wurde vieles geschafft, aber gefühlt weniger, als wir im Herbst gehofft haben. Es kommt zu Ernüchterung und Enttäuschung, da wir jetzt seit einem Jahr im Ausnahmezustand leben. Bei vielen kommt die enorme psychische Belastung erst jetzt zum Vorschein, manche Menschen fallen dadurch in ein Loch. Diese Gefühlslage darf nicht in Resignation und gefühlter Perspektivlosigkeit enden. Dazu fehlt die versprochene, unbürokratische Hilfe und es fehlt oft auch am Bewusstsein für die katastrophale Ausnahmesituation im Ahrtal. Es fehlt an Schnelligkeit, komplizierte Verfahren erschweren die Antragstellung. Auch mit den Versicherungen hapert es oft.


Bürokratie- und Zuständigkeitsfalle


Private und öffentliche Hand geraten nicht selten in eine Bürokratie- und Zuständigkeitsfalle. Wir brauchen Verfahrensvereinfachungen, ein Katastrophenverfahrensrecht und eine Verlängerung der Antragsfristen. Hier muss der Bund eine Regelung für dieses Tal schaffen“, betonte Orthen. Über 1.400 Punkte umfasst der Nach-Flut-Maßnahmenkatalog der Stadt bei einem Volumen von rund 1,7 Milliarden Euro, was letztlich das Stellen von 1.400 Anträgen zur Folge hat. 150 Millionen Euro veranschlagt die Stadt in diesem Jahr für Bau- und Planungsmaßnahmen. Zum Vergleich: in „normalen“ Jahren beträgt diese Position „nur“ 15 Millionen Euro. Dabei stünden, so Orthen, Hochwasser- und Starkregenschutz an erster Stelle. Ein entsprechendes Hochwasser- und Starkregenkonzept wurde Anfang 2022 vom Stadtrat verabschiedet. Der Wiederaufbau soll resilient und klimabewusst sein. In Sachen Hochwasserschutz sei aber auch der Gesetzgeber – in dem Fall das Land und der Bund – gefragt. Die Kommunen seien schlicht nicht in der Lage, dies zu realisieren.


Verstärkte Baumaßnahmen in der Stadt


„Zu den Lichtblicken gehören die Menschen, die sich aus der Katastrophe herausarbeiten, die teilweise Rückkehr des öffentlichen Lebens, das wieder aufgeblühte, zarte Pflänzchen des Tourismus und das nach wie vor beachtliche Engagement vieler Freiwilliger“, ergänzte Orthen, der sich zum Flut-Jahrestag auch eine Reform der Warnstrukturen in Verantwortung von Bund und Land samt Frühwarnsystemen und verbesserter Pegelprognostik wünscht. Nach außen wahrnehmbar werden in der Stadt in den kommenden Monaten die verstärkte Aufnahme von Baumaßnahmen sein. Beispielsweise der Ersatzneubau der Kita Blandine-Merten-Haus, der Wiederaufbau des Ahrtor-Friedhofs in Ahrweiler oder die Herstellung eines durchgehenden, provisorischen Fuß- und Radweges entlang der Ahr. All dies soll und wird zeigen – es geht voran!

Artikel bewerten

rating rating rating rating rating
Kommentare können für diesen Artikel nicht mehr erfasst werden.
Stellenmarkt
Weitere Berichte

Der Unfallverursacher war alkoholisiert auf der A 48 unterwegs

Lkw-Fahrer schwer verletzt in Führerhaus eingeklemmt

Kehig. Ein 37 Jahre alter LKW-Fahrer befuhr am 22.04.2024 gegen 05:00 Uhr die A 8 in Fahrtrichtung Dreieck Vulkaneifel, kommend aus Richtung Koblenz. Zwischen der Anschlussstelle Polch und Mayen kam der Fahrer von der Fahrbahn ab und kollidierte mit der Mittelschutzplanke. Anschließend verließ er die Autobahn an der Raststätte Elztal-Nord, wo er gegen einen am rechten Fahrbahnrand geparkten Sattelzug stieß und diesen auf einen weiteren vor ihm geparkten Sattelzug schob. mehr...

Unbekannte Täter hielten der Spaziergängerin die Waffe an den Kopf

Brutale Bedrohung mit Schusswaffe

Kuchenheim. Am Samstagabend begab sich die Geschädigte mit ihrem Hund auf einen Spaziergang entlang der Kuchenheimer Straße, als sie bemerkte, dass ihr zwei männliche Personen folgten. Diese forderten sie auf, stehen zu bleiben, was sie dann auch tat. Einer der Verdächtigen hielt ihr daraufhin eine Waffe an den Kopf, während der andere ein Messer in der Hand hielt. Die Geschädigte hob ihren Hund auf den Arm und begab sich nach Hause. mehr...

Regional+
 

Fassungslosigkeit und Entsetzen bei Angehörigen und Beobachtern

Ex-Landrat wird nicht angeklagt: Einstellung des Verfahrens schlägt hohe Wellen

Kreis Ahrweiler. Die Staatsanwaltschaft Koblenz hat am 17. April 2024 das Ermittlungsverfahren gegen den ehemaligen Landrat des Landkreises Ahrweiler und den Leiter der Technischen Einsatzleitung (TEL) während der Flutkatastrophe an der Ahr 2021 eingestellt. Die umfangreichen Ermittlungen ergaben keinen ausreichenden Tatverdacht, der eine strafrechtliche Verurteilung ermöglichen würde. Dem Leitenden... mehr...

Kinder beobachten brasilianische Riesenvogelspinne aus nächster Nähe

Exotische Gisela besucht Kita Löwenzahn

Meckenheim. Einen exotischen Gast begrüßten die Kinder und Erzieherinnen in der städtischen Kindertageseinrichtung (Kita) Löwenzahn. Mit Gisela besuchte eine junge brasilianische Riesenvogelspinne der Gattung Lasiodora Parahybana die Einrichtung, die geschützt in einer transparenten Transportbox die Blicke auf sich zog. Gespannt lauschten die Kinder den Erläuterungen des Besitzers der Vogelspinne. „Hat denn jemand Angst vor Spinnen?“, fragte er direkt zu Beginn. mehr...

Anzeige
 
Sie müssen angemeldet sein, um einen Leserbeitrag erstellen zu können.
LESETIPPS
GelesenNeueste
Kommentare
Amir Samed:
Das Gute an einer Demokratie sind nicht diejenigen, die Demokratie im Namen führen oder diejenigen, die am lautesten schreien, sondern diejenigen, die Demokratie leben!...
Jo Gruner:
Das ist Zynismus und Vetternwirtschaft ohne gleichen! Misswirtschaft, Ignoranz, fatales Wegschauen - schon eine Woche vor der Flut war der Landrat gewarnt worden - was sagte er dazu: "Ach, Bis Neuenahr kommt die nicht!" Aha - hat die Flutwelle sich gesagt: "Nee, vor Neuenahr machen wir Schluss?" Daraus...
juergen mueller:
Was noch schwerer zu ertragen ist, dass sich Herr Pföhler bis dato NICHT geäussert hat. Im Gegenteil, er hat sich von seinem Amt still u. leise verabschiedet und das selbstverständlich mit vollen Bezügen. Diese Art der Verabschiedung ist a`typisch im politischen Geschäft. Verantwortung zu übernehmen...
Jürgen Schwarzmann :
Für alle Betroffenen im Ahrtal ist die Entscheidung der Staatsanwaltschaft schwer nachzuvollziehen. Ich hätte mir schon gewünscht, dass das Verfahren eröffnet worden wäre um so in einem rechtsstaatlichen Verfahren und einer ausführlichen Beweisaufnahme die Schuld bzw. Unschuld festzustellen. Die Entscheidung...

Zunahme im um fast 60 Prozent

juergen mueller:
Gehören Sie zu diesen sogenannten "klugen Köpfen"?...
Amir Samed:
Die Brandmauer bröckelt in der Bevölkerung längst, denn was kluge Köpfe seit langem Wissen: Eine einseitige politische Brandmauer, die den offenen Diskurs verhindert, schadet der Demokratie und stärkt die Extreme. Gemäß dieser perfiden Logik gilt alles als Rechts, was nicht dazu gehört und nicht dazu...
Haftnotiz+
aktuelle Beilagen
Inhalt kann nicht geladen werden

 

Firma eintragen und Reichweite erhöhen!
Service