Orgelmarathon in Sinzig
Von Ligeti bis Susteck: Sinziger Studientag präsentiert moderne Orgelmusik
Sinzig.Der mittlerweile dritte Studientag für neue Musik in Sinzig bedeutete zweieinhalb Stunden geballte ungewöhnliche Klänge an der Orgel von St. Peter. Der Sinziger Organist B. Röhn begrüßte den Initiator und Organisator der Konzerte, Dominik Susteck, auf das herzlichste, denn ihm ist es letztlich zu verdanken, dass in Sinzig wieder moderne Orgelmusik erklingt.
Das abwechslungsreiche Programm aus Literatur und Improvisation begann mit dem Berliner Organisten Maximilian Schnaus. Er spielte die in der modernen Orgelliteratur schon klassisch zu nennenden zwei Etuden für Orgel: „Harmonie“ und „Coulée“ von György Ligeti. Die 1. Etude kann nur an einer Orgel wie in Sinzig aufgeführt werden, denn dabei wird durchgehend der Wind gedrosselt. Die 2. Etude „Coulée“ (französisch für „fließen“ und auch „gießen“) besteht aus obsessiv extrem schnelle Arpeggien und Passagen in einem unaufhaltsamen Moto Perpetuo von sich ständig verschiebenden Strudeln. Aber durch seine Trompe-l’oreille-Taktik schafft es „Coulée“, in seiner Technik so beständig zu sein, dass das Ohr beginnt, ein sich langsam entwickelndes Kontinuum zu hören, fast lyrisch in seinen gewölbten Konturen. Die halsbrecherische Geschwindigkeit lässt eine allmähliche Kurve entstehen; winzige, huschende Muster verlieren ihre Definition und versinken in einer größeren Klangmasse. In diesem Werk nutzt Ligeti die Verschmelzung zweier musikalischer Konzepte, der „Punktmuster-Musik“ und der „Rastersystem-Musik“ - erstere eine Musik der Oberflächenwahrnehmungen, letztere ihre nicht wahrnehmbare architektonische Grundlage. Das Ergebnis dieser Verschmelzung ist eine Musik, die zugleich statisch und höchst beweglich ist, ein klanglicher Widerspruch zwischen Erkenntnis und Konzept.
Anschließend spielte er das „Orgellabyrinth“ von D. Susteck, das mit seinen fünf Sätzen verschiedene Möglichkeiten der Orgel zeigt: Der Komponist sagt dazu: „Dieses Werk wurde anlässlich des 50. Orgeljubiläums von der Sophienkirche Berlin mit der Unterstützung des Musikfonds e.V. in Auftrag gegeben und im Dezember 2020 vom Organisten Maximilian Schnaus uraufgeführt. Die fünf Sätze haben einen recht unterschiedlichen Charakter. Der erste Satz „Spiegelkabinett“ lebt von den beiden gegensätzlichen Manualen der Orgel, die wie Spiegel einander gegenübergestellt werden. Als weitere Ebene tritt das Pedal echoartig hervor. „Der Rufer“ nutzt das Register Trompete, das sich immer weiter in ein Rufintervall hineinsteigert. „Runner“ besteht aus Repetitionen, das „Schwarze Loch“ saugt mit liegenden Clustern jegliche Melodik und Harmonik auf. Im letzten Satz erklingt nicht nur die Orgel, sondern auch ein angestrichenes Weinglas auf dem 3-gestrichenen cis: „in vino veritas“ als offenes Ende. M. Schnaus spielte zum ersten Mal in Sinzig und hatt sich hervorragend mit den besonderen Klangmöglichkeiten der Walcker-Orgel vertraut gemacht.
Es folgten Orgelimprovisationen von Studierenden der Hochschule für Musik und Tanz (HfMT) in Köln: Robert Hogrebe und Benedikt Röhn, der besonders mit seiner 1. Improvisation zeigte, wie er sein Spiel weiterentwickeln konnte.
Den 3. Teil des Studientags bestritt der Hagener Organist und Komponist Michael Schultheis. „In seiner Musik verschmelzen Minimalismus und Komplexität, Experiment und Nostalgie, Konstruktion und Emotion zu einer farbenreichen Klangsprache“, so D. Susteck. In dem Stück „Color blocks“ malt der Organist große und kleine, laute und leise, monochrome und polychrome Farbblöcke, deren Wirkung sich keiner entziehen kann.
Im 4. Konzert spielte zwei Werke von John Patrick Thomas (*1941): „Elegie Nr. 4“ und „Machpela“, womit in der Bibel eine Höhle bezeichnet wird, die Abraham von dem Hethiter Efron als Grab für seine Frau Sara gekauft haben soll. Das Werk besteht ausschließlich aus einer langsam fortschreitenden Reihe sich wiederholender Akkorde, vielleicht wie eine Diashow, die Szenen aus Jakobs Leben zeigt, oder eine Prozession mit dem Katafalk, der seinen Leichnam zu der Höhle trägt, in der er liegen und nicht mehr träumen wird. Das Stück ist D. Susteck gewidmet. Zur Elegie Nr. 4 schreibt der Komponist: „Auch die Elegie Nr. 4 war ursprünglich ein Klavierstück, geschrieben zum Gedenken an Loes Verberne-Schaap (1908-2002), die Mutter der niederländischen Cellistin Marijke Verberne. Loes Verberne-Schaap war eine Klavierlehrerin, die in ihren letzten Lebensjahren geschwächt war und sich eines Tages vorstellte, dass die Krankenschwester, die ihr half, eine Klavierschülerin war, die zum Unterricht gekommen war. Die Krankenschwester erhielt in der Folgezeit einige Zeit lang regelmäßig Unterricht“.
Aus dem eigenen Werk „Zeitfiguren“ erklangen 3 Teile: „Leuchten“: „Was an der Musik sieht aus, als ob es steht, obwohl es zerfließt? Es sind Klänge, die den Raum ausleuchten. Sie werden kommentiert, immer wieder, in einem ewigen, sich variierenden Ostinato. Immer sagen sie etwas, eindringlicher, hoch und tief, lang und breit. Doch dort erscheint etwas anderes, etwas Neues. Es leuchtet, färbt und brennt, als wolle es auf der Stelle stehen, wohl wissend, dass es dort nicht bleiben kann“, so kommentiert D. Susteck sein Werk selbst. Und zu „Zeit“ schreibt er: „Die Zeit klopft, tickt wie eine Uhr, wird gemessen. Sie zerfließt, zerrinnt, und doch steht sie. Sie zergeht in Energie und ist nur mit Ordnung messbar. Durch Meditation wird die Zeit gewaltig stark, berstend, wie der eigene Herzschlag. Im Schnellen jagt sie sich, wird flüchtig und vergeht, als gäbe es sie nie“. Auch im letzten Teil „Warten“ reflektiert er musikalisch die Zeit: Warten ist eine existentielle und zugleich so alltägliche Erfahrung. Musikalisch wechseln sich nur zwei Klänge ab und bestimmen die übrigen Klänge. So wird das Warten zur eschatologischen Hoffnung des Christen.
Vier Improvisationen beschlossen den langen Abend auf harten Bänken, der interessante und abwechslungsreiche Einblicke in die zeitgenössische Orgelmusik ermöglichte.