Kinetische Kunst aus Wachtberg
Wachtberg. Zum Abschluss der 16. Wachtberger Kulturwochen kamen im Moving Art Garden von Lotta Svalberg und Pascal Sani an der Pecher Straße (L158) rund 300 Gäste zusammen. Sie verfolgten am Abend des 2. Juli 2023 die auf der Freilichtbühne auf Großleinwand projizierte Szenenauswahl des international bekannten, preisgekrönten Schattentheaters „Moving Shadows“ und bewunderten die illuminierten Kunstmaschinen von Willi Reiche.
Wer bei den Wachtberger Kulturwochen den „MAG“ gemäß seinem Motto „bewegt, bewegend, besonders“ erlebt hat, weiß spätestens seitdem, dass der künstlerische Urheber des Drachen „Godart“ am Kreisverkehr in Wachtberg-Berkum üblicherweise bewegliche Kunst kreiert.
Willi Reiche bezeichnet seine kinetische Kunst als „Kunstmaschinen“ und präsentiert die für den Innenbereich konzipierten Werke in der „Kunstmaschinenhalle“ oberhalb von Remagen. Die Kunstmaschinen werden bevorzugt mit Niedervoltmotoren und Solarstrom angetrieben, aber auch Muskelkraft und Gravitation. Im Freien kommt zudem Wind zum Einsatz.
Gemeinsam ist allen Werken des Künstlers Reiche, dass er seit jeher Dinge und Materialien verarbeitet, die ausrangiert wurden, in ihrer ursprünglichen Funktion ausgedient haben. In surrealen Inszenierungen, in humorvoll bis absurd arrangierten Konglomeraten mit oftmals dadaistischen Zügen oder auch ästhetisch-klaren seriellen Anordnungen erwachen sie zu neuem Leben: „Entstanden ist eine Geschichten erzählende Zauberei, ein Faszinosum, eine lebendige Kunstmaschine, die jedem ihrer nutzlosen Dinge einen neuen Nutzen gibt, einen neuen Zweck und einen neuen Sinn: den Nutzen der Zwecklosigkeit und den Sinn der Kunst. Es gibt keinen Besseren!“ So Max Moor im Vorwort des 2021 erschienenen Katalogs „KUNSTMASCHINEN Willi Reiche“. Sowohl in seinen nicht-kinetischen Frühwerken (seit 1982) als auch in seinen Kunstmaschinen (ab 1998) schöpft Reiche aus seinem umfangreichen Fundus unzähliger Gegenstände. Gezeichnet von Gebrauchsspuren und dem Zahn der Zeit verleiht der „Kunstmaschinist“ (diese Titulierung wählte Feuilleton-Redakteur Thomas Kliemann in „Schrott in Bewegung, alles im Fluss“, als er im General-Anzeiger ausführlich über Willi Reiche berichtete) selbst funktionslosen Zeugnissen der Alltagskultur neues Ansehen.
Durch wohlproportionierte Kompositionen und die ästhetische Gestaltungsweise wirken Reiches Arbeiten würdevoll und ansprechend. Großobjekte wie der pagodenartig angelegte Tempel „Holy Prong“, „Oh my deer“ mit seinen acht sanft wippenden Hirsch-Geweihen oder das Wasserspiel „Ganz große Bühne – kleiner Strahl“ strahlen kontemplative Ruhe aus, bringen zum Schmunzeln und erzeugen faszinierende Schattenspiele.
Es zählt nicht allein das „Woher“ der einzelnen Bestandteile, sondern vor allem auch das „Wie“.
Beim „Sägewerk“ entfaltet ein per Handkurbel angetriebenes Räderwerk auf dem flächigen Verbund aus untauglich gewordenen, aber grafisch wirkungsvollen Sägeblättern markante Schatten auf der rostroten Oberfläche.
Und so steht auch beim Drachen „Godart“ nicht im Vordergrund, dass dieser vorrangig aus Schrott konstruiert und mit Gratschrott feingliedrig modelliert wurde, sondern dessen positive Ausstrahlung, die ihn schnell zum Sympathieträger und neuen Wahrzeichen der Gemeinde Wachtberg werden ließ.
Was heute gerne als „Upcycling“ bezeichnet wird, betreibt der Künstler Willi Reiche schon seit Jahrzehnten. Die besondere Kunst liegt dabei vor allem darin, nicht nur nachhaltig mit Ressourcen umzugehen, sondern ein hohes Maß an Ästhetik zu erreichen, also tatsächlich „aufzuwerten“.
Diesen künstlerischen Anspruch hat der Wachtberger Künstler Reiche erreicht: 2021 wurde sein Werk „Every brass you take“ beim ersten deutschen Upcycling Kunstpreis auf den dritten Platz gewählt, einhergehend mit der Einladung, diese Arbeit auf der DrapArt Barcelona zu präsentieren. Hier zeichnen sechs ausgemusterte Schallbecher von Metallblasinstrumenten (daher brass, nicht breath) zyklisch wiederkehrende Wellen und Bögen in die Luft.
Und am 6. Oktober 2023 wird der Wachtberger Künstler seine kinetische Kunst im Centre Pompidou Málaga vor internationalem Publikum vorstellen. Vom 5. bis 7. Oktober richtet Sculpture Network sein „XV. Internationales Forum in Málaga“ aus und widmet sich dabei dem Schwerpunkt „Sculpture and Climate Emergency“.
Die Jury, bestehend aus Maria Gracia de Pedro (E), Yke Prins (NL) und Susanne Ahrenkiel (DK), hat Willi Reiche gemeinsam mit neun weiteren Künstler:innen aus Deutschland, Estland, Litauen, Monaco, Spanien und den USA nominiert für eine Darstellung ihrer Kunst und Arbeitsweise unter dem Aspekt der Nachhaltigkeit.
Die Präsentation im Centre Pompidou erfolgt per Beamer, Reiches Kunstwerke bleiben also vor Ort in der Kunstmaschinenhalle, im Moving Art Garden, im Mechanicum Rüdesheim und natürlich auf der Mittelinsel des Kreisverkehrs „Am Wachtbergring“.
Außerdem sind in Kürze Arbeiten von Reiche an zwei Ausstellungsorten in Bonn zu sehen: Vom 8. bis 29. Oktober die Installation „Hanger“ im „Haus der inneren Werte“ im Rahmen des iranisch-deutschen Ausstellungsprojektes „Auf Augenhöhe“, das vom BBK Bonn, Rhein-Sieg e. V. in Zusammenarbeit mit ARTOLOG und Kunstforum 99 ausgeschrieben wurde. Vernissage ist am Sonntag, 8. Oktober 2023 um 19 Uhr im Künstlerforum Bonn, Hochstadenring 22.
Ab Ende Oktober/Anfang November wird die Kunstmaschine „Secret dreams“ im Studio 5 der Brotfabrik zu sehen sein als Bestandteil der Gruppenausstellung „Shapes of my mind. Ein skulpturales Intermezzo“. In der Brotfabrik hatte Reiche vor 35 Jahren bereits eine Einzelausstellung mit seinen Frühwerken.