Erstmals führte ein „Stolpergang“ durch Sinzig

80 Jahre Reichspogromnacht - Eine Mahnung für das Heute

Rund 150 Menschen gedachten der damals entrechteten Juden und setzten ein Zeichen gegen Antisemitismus und Rassismus

13.11.2018 - 16:09

Sinzig. Schon Jahrzehnte lang

sind die Kaufhäuser Hirsch und Friesem in der Ausdorferstraße Vergangenheit. Keine Nachfahren der jüdischen Familien Gottschalk, Liebmann, Meyer, Levy, Salomon, Hein und Wolff haben sich mehr in Sinzig niedergelassen. Die Auswirkungen von Diskriminierung, Entrechtung, Vertreibung und Ermordung der Juden durch den Nationalsozialismus wirken nachhaltig bis in alle Zukunft. „Vor 80 Jahren wurden im gesamten Deutschen Reich 1406 Synagogen, Betstuben und sonstige jüdische Versammlungsräume, etwa 7000 jüdische Geschäfte und unzählige Wohnungen jüdischer Bewohner zerstört. Über 29000 jüdische Männer wurden in Konzentrationslager gebracht. Mindestens 400 jüdische Menschen kamen durch Mord, Totschlag, Schock oder Suizid ums Leben.“ So begann Rudolf Menacher seine Einführung zum „Stolpergang“ in Sinzig.

Unter diesem Motto versammelten sich vor dem Rathaus rund 150 Menschen. Anlässlich des 80. Jahrestags der Reichspogromnacht hatte eine Projektgruppe des Bürgerforums Sinzig um die Projekt-Initiatoren Veronika Wiertz und Uli Martin für den 10. November zu einem Rundgang durch die Kernstadt aufgerufen. Mitwirkende außerhalb des Bürgerforums waren Rudolf Menacher, die Künstlerin Friederike Gross-Koschinski und der Bonner Klarinettist Georg Brinkmann, der den „Stolpergang“ mit Klezmermusik begleitete.

„Mit dem Erinnern an die Ereignisse im Zusammenhang der sogenannten Reichskristallnacht wollen wir nicht nur gegen das Vergessen angehen, sondern auch mehr Nachdenklichkeit in der heutigen Debatte über Verfolgung und Diskriminierung und mehr Empathie für davon betroffene Menschen erreichen“, hatten Wiertz und Martin bereits vorab erklärt. Vor dem Rathaus griff Uli Martin dann auch die Rede Angela Merkels vom Vortag auf. Die Kanzlerin hatte betont, dass die Menschen heute wie damals in einer Zeit mit tiefgreifenden Veränderungen leben. In solchen Zeiten wachse die Gefahr, dass diejenigen, die mit vermeintlich einfachen Antworten auf die Schwierigkeiten reagieren, Zulauf bekommen. „So wollen wir über den Tag hinaus ein Zeichen setzen“, warb Martin für Achtsamkeit gegenüber jeglichen fremdenfeindlichen Tendenzen.


SA-Leute entweihten Synagoge


Zur Bezeichnung „Reichskristallnacht“ für die Gewaltausschreitungen sei es laut Menacher gekommen, weil jeder wusste, dass es sich nicht um „spontanen Volkszorn“ gehandelt habe, sondern um eine gelenkte Aktion, um „Staatsterror“. SA-Dienststellen erhielten am 9. November 1938 Anweisungen, Geschäfte von Juden zu zerstören und Synagogen anzuzünden. Die Novemberpogrome waren Einschüchterungen, um jüdisches Vermögen zu beschlagnahmen und eine „neue Eskalationsstufe der Vertreibungs- und Enteignungspolitik, die schon 1933 begonnen hatte“. Was geschah konkret in Sinzig? Rudolf Menacher, der mit Hans-Ulrich Reiffen 1996 das Buch „Knoblauch und Weihrauch“ herausbrachte, sprach von einem motorisierten Rollkommando, SA-Leute aus Heimersheim und Brohl, die unter Beteiligung von etwa zehn Sinzigern die gesamte Einrichtung der Synagoge samt Thorarollen im Hof zerschlugen und in Brand steckten. Auch das Kaufhaus Hirsch in der Ausdorferstraße 28 wurde zum Angriffsziel sowie die Privatwohnungen der Familien Hirsch, Abraham Meyer, Isaak Meyer und Louis Meyer. Die Ortspolizei verhaftete vier jüdische Männer, die mit zwölf auswärtigen Juden und dem Plakat „Wir dulden keine Meuchelmörder – raus mit den Juden!“ durch die Stadt geführt und ins Koblenzer Gefängnis gebracht wurden. 1938/39 flohen oder emigrierten 13 jüdische Sinziger, 1940 vier weitere. Ihr Vermögen zog der Staat ein.


Widerstand gegen Fremdenfeindlichkeit


Spätestens ab 1941 zielte die Politik nicht mehr auf Vertreibung, sondern Ermordung der Juden. 21 Menschen jüdischen Glaubens aus Sinzig und seinen Landgemeinden wurden 1942 deportiert. Vier starben im Lager Theresienstadt innerhalb von zwei Monaten. Das Schicksal der übrigen ist nicht bekannt. „Wenn wir heute der jüdischen Opfer gedenken, dann nicht aus einem Schuldkomplex heraus“, erklärte Menacher. „Sondern wir möchten den wieder erstarkten antisemitischen, antiislamischen, fremden- und demokratiefeindlichen Kräften Widerstand entgegensetzen.“

Ein großes Plakat mit der Überschrift „Im Gedenken an die Opfer und Verfolgten der jüdischen Gemeinde in Sinzig 1933 – 1945“ führte auf dem Kirchplatz die Namen der 23 drangsalierten Menschen auf. Ebenso stand das Nennen ihrer Namen und Anführen der Schicksale im Mittelpunkt des Stolpergangs, der in der Gudestraße, der ehemaligen Judengasse, begann. Im Haus Nummer 10 hatte, wie Helga Schneider verlas, der gebürtige Sinziger Heinrich Moses seine Metzgerei. Er emigrierte 1937 als erster Sinziger Jude, tief enttäuscht vom Vaterland, dem er im Ersten Weltkrieg gedient hatte, mit seiner Frau Jettchen und seiner Mutter Amalie. Daneben, in der Nummer 12, wohnte das Ehepaar Gottfried, genannt Salomon Wolff und Karoline mit zwei ledigen Töchtern. Letztere wurden nach Krasniczyn, Polen, deportiert. Die alten ins Lager Theresienstadt gebrachten Eltern starben binnen zehn Tagen; die Töchter wurden nach Krasniczyn deportiert, Verbleib unbekannt. Dies erfuhren die Teilnehmer durch Monika Weber-Lambert.


Haus gegen Schiffskarten


Würdig, ohne Hast und falsches Pathos führte der „Stolpergang“ auch durch die Koblenzer Straße, Renngasse, Münzgasse, Ausdorferstraße und Mühlenbachstraße zurück zum Kirchplatz. Immer wieder wehten die Klänge der Klarinette durch die Häuserfluchten. Ian Johnson fing Töne, Beiträge sowie Kommentare von Teilnehmern ein, die er den Veranstaltern überlassen will. Als Vortragende wechselten sich neben den Genannten Melanie Brücken, Karin Dörfler, Manuel Noll-Ehlen, Dr. Hans-Uwe Schneider und Veronika Wiertz ab. Einen etwas längeren Halt gab es in der Renngasse, wo Friederike Gross-Koschinski sprach, die schon vor 20 Jahren künstlerisch-didaktisch für eine Gedenkausstellung in der ehemaligen Synagoge Ahrweiler „einen anderen Zugang zur Zeit des Nationalsozialismus“ erarbeitete. Dem heutigen kleinen Parkplatz hatte das Fachwerkhaus Nummer 20 in den 1960ern weichen müssen. In ihm kamen die sehr verschiedenen, aber jeweils durch Verlust geprägten Schicksale von Juden und Christen in Berührung. Besitzer des Hauses war der Viehhändler Samuel, genannt Gottschalk Wolff. Der Witwer wohnte mit Tochter Jetta dort. Damit die Familie auszuwandern konnte, verkaufte die auswärts verheiratete Tochter Adelheid, genannt Erna, Haus und Inventar und emigrierte per Schiff mit Mann, Sohn und Schwester Jette nach Venezuela, wo bereits Familie Moses aus der Judengasse 12 lebte. Vater Gottschalk Wolff wollte nicht ausreisen. Er blieb im Haus mit den neuen Besitzern. Das war eine christliche Familie aus Kaltenborn bei der hohen Acht, die nach der Zwangsumsiedlung 1939 wegen dem Bau eines Luftwaffenübungsplatzes das Haus eines „Ersatzlandverkäufers“ in Sinzig zugewiesen bekam. Gottschalk Wolff wurde nach Izbiza, einem Vernichtungslager im „Generalgouvernement“ (Polen), deportiert.


Drei Kastanienbäume


An der Eulengasse informierte wiederum Rudolf Menacher über die Sinziger Synagoge. Sie war 1867 im Mittelteil der Alten Burg, auch Martelsburg genannt, eingerichtet worden. Bedauerlich ist, dass gar nichts von ihr übrigblieb. Nicht einmal gute Fotos gibt es. Nur drei schmale Kastanienbäume, die schon im Innenhof der bis auf den rechten Flügel 1970 abgerissen Martelsburg standen, erinnern Ortskenner an die jüdische Gemeinde und ihr Gotteshaus. Nur einen Steinwurf entfernt befindet sich seit 1992 die in Abstimmung mit dem Überlebenden Richard Meyer vom Löhndorfer Bildhauer Titus Reinarz geschaffene Gedenkstätte. Die Teilnehmer des „Stolpergangs“ stellten Kerzen dort auf und machten noch einmal in der Mühlenbachstraße Station. Viele zeigten sich bewegt und dankbar über diese Form des Gedenkens. Viele äußerten auch den Wunsch, dieser Rundgang möge wiederholt werden. HG

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