Beeindruckende Lesung mit Jennifer Teege zum Gedenktag an die Befreiung von Auschwitz

Das Leben mit einem Mörder als Großvater

26.01.2016 - 10:01

Koblenz-Karthause. Das Bundesarchiv Koblenz hatte kürzlich zum Gedenken an den 27. Januar 1945, den Tag der Befreiung des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz, gemeinsam mit dem Freundschaftskreis (FSK) Koblenz-Petah Tikva zu einer Lesung eingeladen. Hilde Arens, Vorsitzende des FSK, erinnerte in ihrem Grußwort an die eine Million in Auschwitz ermordeten Juden und an die große Zahl der weiteren Opfer der NS-Zeit. Die Verbrechen, wie sie in Auschwitz verübt wurden, seien stete Verpflichtung, sich mit der Geschichte auseinanderzusetzen und die Erinnerung daran wachzuhalten. Das bedeute in letzter Konsequenz auch, sich mit der eigenen Familiengeschichte auseinanderzusetzen. Er sei schon etlichen Menschen begegnet, die mit einer verwandtschaftlichen Hypothek, einem nationalsozialistisch geprägten Familienhintergrund zu leben haben, sagte Dr. Michael Hollmann, Präsident des Bundesarchivs. Aber durch welche Täler man schreiten muss, um mit einem solchen Wissen umzugehen und es in das eigene Leben zu integrieren, davon habe er erst eine Vorstellung bekommen als er Jennifer Teeges Buch las. Im Bundesarchiv stellte die in Hamburg lebende, am 29. Juni 1970 als Tochter von Monika Göth und eines Nigerianers geborene Autorin dieses biografisch-dokumentarische Buch vor, das sie zusammen mit der Journalistin Nikola Sellmair schrieb und 2013 veröffentlichte. Sein Titel lautet: „Amon. Mein Großvater hätte mich erschossen“.

Amon ist Amon Göth. Ein Mann, der von Februar 1943 bis September 1944 Leiter des Zwangsarbeitslagers im polnischen Plaszow bei Krakau war. Seit dem Film „Schindlers Liste“ ist SS-Sturmführer Göth, der eigenhändig 500 Menschen ermordet haben soll und auf dessen Konto insgesamt wohl weit mehr als 10.000 Menschenleben gehen, als „Monster von Plaszow“ bekannt. „Entdeckung“ heißt das Kapitel, in dem Teege per Zufall – oder war es Schicksal? - mit 38 Jahren in einer Bibliothek ein Buch findet, auf dessen Einband eine Frau abgebildet ist, deren Blick ihr bekannt vorkommt. Beim Studieren von Text und Bildern erkennt sie dann, dass diese Frau ihre Mutter Monika Göth, Amon Göths Tochter ist. Dieses Buch „Ich muss doch meinen Vater lieben, oder?“ handelt tatsächlich von ihrer eigenen Familie. Genauer gesagt ist es die Lebensgeschichte ihrer im November 1945 geborenen Mutter, die der Autor Matthias Kessler nach einem Interview mit ihr aufschrieb. Teege kann es kaum fassen, und es graut ihr davor, es zu lesen. Hinterher fragt sie sich zunächst voller Wut: „Warum hat meine Mutter nie etwas gesagt?“ und „Haben mich alle all die Jahre belogen?“.


Auf der Suche nach der eigenen Familiengeschichte


Das neue Wissen um die dramatische Familiengeschichte fügt ihrem Lebenslauf eine weitere tiefe Kerbe hinzu. Schon im Alter von vier Wochen wurde sie von ihrer Mutter getrennt und in ein Kinderheim gegeben, wo sie in der Obhut von Nonnen aufwuchs. Mit sieben Jahren wurde das Mädchen mit der dunklen Haut von einer Pflegefamilie adoptiert. Jahrelang war Teege, geplagt von Depressionen, auf der Suche nach dem Schlüssel zu ihrer Familiengeschichte. Den findet sie als schreckliche Wahrheit nun in diesem Buch der Mutter. Jetzt beginnt Teege mit der Aufarbeitung. Sie liest Dokumentationen, schaut Filme an – immer den Spuren jener Zeit und ihrer Familie folgend. Sie ist erschüttert und schockiert. Zusätzlich fährt sie nach Polen und besucht die Villa des Großvaters, die damals auf dem Lagergelände stand und von deren Balkon aus er wahllos Lagerinsassen erschoss. Trotz aller Recherchen bleiben viele Fragen.

Einige Antworten könnte ihr vielleicht die Mutter geben, obwohl diese selbst hinter einer Wand des Schweigens aufwuchs und erst später erfuhr, dass ihr Vater ein „SS-Mann“ war und Juden getötet hatte. Doch bis heute schweigt Monika Göth ihrer Tochter gegenüber. Sie hat die Beziehung abgebrochen. Über all das liest Jennifer Teege aus der Ich-Erzählperspektive heraus. Sie liest in nahezu unbewegter Haltung. Nur ihre Stimme scheint manchmal leise zu zittern, wenn sie sich mit der Figur Amon Göth, „dem Mann, der reihenweise tötete und dem das auch noch Freude bereitete“ auseinandersetzt. „Ich bin eine Göth, ich kann es mir nicht aussuchen“, resümiert sie. Lesend gibt sie Einblicke in ihre Kindheit, ihre Jugend, ihr seit jeher bestehendes Interesse am Holocaust, in ihr Verhältnis zur Mutter und vor allem zur Großmutter, Ruth Irene Kalder. Zu ihr, der sie so ähnlich zu sein scheint, hatte sie ein inniges Verhältnis. Neben der Darstellung der Großmutter lässt Teege der Figur des sadistischen, psychopathisch mordenden Großvaters weniger Raum.


Befreiende Wirkung


Doch die Großmutter war Amon Göths Lebensgefährtin. Sie liebte ihn offenbar abgöttisch und verschloss (deswegen?) die Augen vor dem, was er tat, für das er im Jahr 1946 mit „Tod durch Erhängen“ bestraft wurde. Einige Jahre danach nahm Ruth Irene den Namen Göth an. Als ihre Enkelin zwölf Jahre alt war, beging sie Selbstmord. Die starke Beziehung zur Großmutter habe eine Art der Entzauberung erfahren, als sie über das Buch der Mutter deren dunkle Seite kennenlernte. Kannte diese Frau kein Mitgefühl? Dabei hatte sie ihrem Empfinden nach doch immer so viel Güte ausgestrahlt damals. Bis zu ihrem Tod schenkte sie Amons Opfern keine Beachtung. Und dennoch liest Teege zum Schluss: „Ich hätte gerne einen anderen Großvater, aber immer wieder gerne diese Großmutter“.

Und sie macht klar, dass die Geschichte für sie persönlich auch eine gute Seite hatte. Die Enthüllung des schrecklichen Familiengeheimnisses habe sie letztlich befreit und ihr die ewige Traurigkeit genommen, lacht sie mit einem jetzt fröhlichen Blitzen in den Augen. Nach der Lesung beantwortete die Autorin geduldig die vielen Fragen der Zuhörer. Die meisten drehten sich um die Reaktion der Mitmenschen, Freunde und Kinder von Teege auf die Geschichte oder um familiäre Hintergründe. Dr. Margit Theis-Scholz, Kulturdezernentin der Stadt Koblenz, erkundigte sich nach Teeges Motiv zur Veröffentlichung des Buches. Nein, sie habe es nicht als Therapie für sich geschrieben, antwortete die Autorin, sondern erst, nachdem sie die Geschichte aufgearbeitet hatte. Sie sei überzeugt, dass sich viele in dem mittlerweile in elf Sprachen übersetzten Buch gut wiederfinden können. Zum einen weil ihre Geschichte vom Grundsatz her eine sehr universelle sei – auch viele andere entstammen einer Tätergeneration. Zum anderen mache das neben dem Historischen stark betonte Thema „Identität“ das Buch lesenswert. Sie wolle mit dem Buch kein Wissen, sondern eher Werte und Empathie vermitteln, Bezüge aufzeigen und Reflexionen zu den Fakten anbieten. Nach einem aufrichtigen Dank an die Autorin war sich das Publikum mit Hilde Arens einig: Das Gehörte hatte tief berührt und beeindruckt.

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