Vortrag zum Thema „Wie der Islam Europa formte“ im Wohnstift Augustinum stieß auf reges Interesse
Von blutigen Kriegen und fehlenden Nullen
Bad Neuenahr. „Wie der Islam Europa formte“ erläuterte Dr. Frank S. Becker in einem Lichtbildvortrag im Wohnstift Augustinum. Bei den Bewohnern stieß dieses Thema auf reges Interesse. Viele von ihnen kamen trotz heißer Temperaturen in den angenehm heruntergekühlten Theatersaal.
Der rund 60-minütige Vortrag war ein anspruchsvoller Abriss über knapp zwei Jahrtausende Geschichte zweier Kulturen und ihres Verhältnisses zueinander. Da ging es um blutige Schlachten, Unterschiede, gemeinsame Nenner und Anekdoten wie die der fehlenden Null. Was es damit auf sich hat? Bis heute lernt jeder Europäer spätestens mit Beginn der Grundschule das arabische Ziffernsystem kennen. Tatsächlich haben die Araber ihr Ziffernsystem aber lediglich aus Indien übernommen und um die Null ergänzt. Fachlich richtig wäre also der Ausdruck arabisch-indisches Ziffernsystem, weiß Dr. Becker. Übrigens gehen auch weitere vermeintlich europäische Zählweisen wie die Siebentagewochen, der Zwölfstundentag und die 360 Gradeinteilung auf Einflüsse aus dem Nahen Osten zurück.
Historie zweier Kulturen – kriegerische Auseinandersetzungen
Auf den lockeren Einstieg über Anekdoten, folgte ein historischer Abriss, beginnend mit der Begründung des theokratischen Staates durch Mohammed und endend mit dem Nahostkonflikt. Dieser Abriss war der rote Faden des Abends. Nur selten verließ der Vortragende diese historischen Pfade, etwa für einen Exkurs in die Unterschiede zwischen Islam und Christentum. Freilich blieb bei einer Vortragszeit von einer Stunde nur Zeit für die großen Meilensteine aus zwei Jahrtausenden Geschichte. Für Dr. Becker ist das Jahr 754 ein solcher Meilenstein. In einer anonym überlieferten mittelalterlichen Chronik, tauchte hier erstmals der Begriff des Europäers auf. Knapp 250 Jahre später, um das Jahr 1.000, dominierte, so Dr. Becker, der arabisch geprägte Islam weite Teile des Mittelmeerraumes. Mit den Kreuzzügen kam seiner Einschätzung zur Folge eine erste europäische Massenbewegung auf – ein Blutbad, das seinesgleichen sucht und an dessen Ende von den einstigen arabischen Eliten von Macht nur noch wenig übrig war.
Wissenstransfer aus dem arabischen Raum
Neben kriegerischen Auseinandersetzungen, prägte seit eh und je Wissenstransfer die Beziehung zwischen Europa und dem Nahen Osten. Auch diesen Aspekt beleuchtet Dr. Becker in seinem Vortrag und führt exemplarisch die Übersetzerschule des spanischen Toledo auf. Arabisches Wissen über Algebra, Geburtshilfe, Augenheilkunde und vieles mehr wurde hier übersetzt.
Doch nicht nur in der Wissenschaft wurde der Orient „en vogue“. Bereits im 18. Jahrhundert wurden die aus Persien stammenden Erzählungen aus 1001 Nacht übersetzt werden, die bis heute zur Weltliteratur zählen. Und auch deutsche Kulturgrößen wie Goethe ließen sich von Nahen Osten inspirieren. Seine umfangreichste Gedichtsammlung „Westöstlicher Diwan“ basiert auf Werken eines persischen Dichters namens Hafis.
Der Islam und Europa heute
Aller sich anbietenden gesellschaftspolitischer Brücken blieb unbesprochen, wie der Islam Europa aktuell formt. Becker schien den Titel seines Vortrages bewusst ins Präteritum gesetzt zu haben und wandelte die historischen Pfade souverän ab. Mit seiner Leidenschaft für Historie und Lichtbildern zur Untermalung des Gesagten, holte er auch fachlich weniger fachkundige Zuhörer ab. Schade, dass am Ende zu wenig Zeit für das Hier und Jetzt blieb. Die heutige Beziehung zwischen Islam und Europa kommentierte er lediglich wie folgt: „Auch heute formt uns der Islam in unserer Abwehrhaltung."
Zur Person: Dr. Frank Stefan Becker
Dr. Frank Stefan Becker wurde 1952 in Marburg geboren. Nach dem Abitur studierte er Physik an der Universität Karlsruhe und promovierte in München. Im Anschluss an die Promotion war er bis 2012 bei einem großen deutschen Industierkonzern in zentralen verschiedenen Funktionen tätig. Zuletzt setzte er sich dort mit dem Spannungsfeld zwischen akademischen Anforderungen und Notwendigkeiten der Berufspraxis auseinander. Zudem schulte er Jungingenieure und Berufseinsteiger. 2012 machte sich Dr. Becker selbstständig und hält seither Vorträge zu den Themen Bildung und Karriere. Bereits in Kindertagen entdeckte Dr. Becker römische Münzen und Scherben und damit seine Leidenschaft für Historie. Dieses Interesse führte ihn auf zahlreiche Reisen in den Mittelmeerraum und den Nahen Osten. Früh entdeckte er seine Lust am Schreiben. Nebenberuflich verfasst er historische Romane, Fachbeiträge und liefert Text- und Fotobeiträge für Reiseführer.